zur
startseite
zum
archiv
Der
Stadtneurotiker
Inhalt:
Alvy
Singer, ein ganz normaler Intellektueller aus New York, mit ausgeprägtem
Hang zu diversen Neurosen, streift als mäßig erfolgreicher Komiker
durch seine Heimatstadt und verliebt sich in die nicht minder neurotische Annie
Hall. Gegenseitig bombardieren sie sich mit ihren Ängsten, Wünschen
und Träumen und ihre Beziehung entwickelt sich schnell zu einer großen
psychoanalytischen Sitzung.
Kritik:
Woody
Allen, der Inbegriff komödiantischer Intelligenz, legte 1977 mit seinem
Werk Annie
Hall
(in Deutschland: Der
Stadtneurotiker)
sein Meisterwerk (ausgezeichnet unter anderem mit vier Oscars, inklusive denen
für den Besten Film und die Beste Regie) und seinen ganz persönlichen
Beitrag zur Filmhistorie vor. Die dezente, aber dennoch vorhandene Albernheit
seiner früheren Werke wie Everything
You Always Wanted To Know About Sex
(1972) oder Bananas
(1971)
wich einem sehr pointierten und dermaßen intellektuellen Witz, dass man
teils fast Schwierigkeiten bekommt, ihm wirklich zu folgen. Dieser neuen Art
des komödiantischen Schaffens Allens fügte sich die Thematik bei,
die ihn aus heutiger Sicht berühmt machte: Der Umgang mit der Neurose und
dem "charmanten Wahn". Kaum jemand verbindet heute mit den Begriffen
sexfixierter, intellektueller New Yorker, geborener Verlierer und Neurotiker
nicht das schrullige und sofort einprägsame Gesicht Woody Allens, auf dessen
Nase die berühmte, überdimensionierte Hornbrille sitzt. Er und sein
Werk Annie
Hall
waren es letztlich, die diesem psychischen Leiden ein unverwechselbares Gesicht
gaben.
Woody
Allen brilliert in seinem Geniestreich in der Rolle des Alvy Singer; ein etwas
schusselig wirkender Mann in der Midlife-Crisis, der es zu einem kulturellen
Sakrileg erklärt, wenn er in einer Schlange zum Kino anstehen muss und
hinter ihm jemand, dem er aber auch überhaupt keinen Anspruch beimisst,
dieses zu tun, lautstark über die Werke Federico Fellinis doziert. Ein
Mann, der einen Film als verpasst ansieht, wenn ihm die Credits zu Beginn entgehen
und der den Tod als ein "sehr wichtiges Ereignis im Leben" betrachtet.
Alvy Singer sieht jede noch so kleine Begebenheit - sei sie nun positiver oder
(was ungleich häufiger vorkommt) negativer Natur - in seinem Leben in einem
großen und viel weitreichenderen Zusammenhang, was beim Zuschauer unweigerlich
das Gefühl auslöst, dass Alvy nicht Part der Welt ist, sondern dass
er der Auffassung ist, dass die Welt nur um ihn kreise. Regisseur Allen visualisiert
diesen Zustand, indem er einfach sämtliche Regeln der klassischen dramaturgischen
Struktur und der Filmregie niederwirft und Alvy machen lässt, was er will.
So befragt Singer in Beziehungssachen einfach irgendwelche Leute auf der Straße,
die ihm dann auch jederzeit bereitwillig Auskunft geben, oder bei einer Diskussion
über eine historische Persönlichkeit, diese einfach ins Bild zerrt
und befragt. Selbst den Zuschauer lässt Allen nicht außen vor und
immer wieder wendet sich der orientierungslose Singer in Richtung der Kamera
und fragt ihn, gleichermaßen sich selbst bestätigend und den Zuschauer
als ein über allem thronendes Wesen ansehend, ob dieser das nicht ebenfalls
gerade so empfunden hat, wie Alvy selber. Ebenso schonungslos, wie er den Zuschauer
als eigenen Charakter mit in die Handlung einbindet, geht er auch mit den Zeitebenen
um - die gibt es nämlich nicht, oder zumindest nicht in irgendeiner gewohnten
Struktur. So reist Alvy ohne irgendwelche "Vorwarnung" durch die Abschnitte
seines Lebens, sitzt bald wieder als erwachsener Mann in seinem Klassenzimmer,
oder beobachtet seine Familie und sich selber in ihrem Haus unter einer Achterbahn
(!). So gelingt es Allen auf grandiose Weise mit üblichen Handlungsabläufen
abzurechnen und einen eigenen, vollkommen neuen Regiestil zu kreieren, der weitaus
näher am modernen Experimentalfilm, als denn an der klassischen Komödie
ist.
Aber
Allens Inszenierung bekommt ihren eigentlichen Knackpunkt und den Höhepunkt
ihrer Brillanz erst mit dem Eintreten Annies (exzellent: Diane Keaton) in Alvys
(un)geordnetes Leben. Mit der sehr ausführlichen Ausleuchtung der Beziehung
der beiden kommt es zu einem erneuten Novum, das in dieser extremen Art fast
schon ein Unikum in der Filmgeschichte ist - der psychoanalytischen Beziehungskomödie.
Es ist ungemein facettenreich, wie Allen sich mit dem Verhältnis und Sexualleben
zwischen der eher optimistisch (sie sammelt Romane und Gedichte, er Bücher
über den Tod) fungierenden Neurotikerin Annie
Hall
und dem, von der großen Verschwörung gegen den kleinen Mann geplagten,
Alvy Singer beschäftigt. Trotz der angedeuteten "Couch-Atmosphäre"
und der Vielschichtigkeit der gegenseitigen Analyse verliert das Werk in keinem
Moment seine Heiterkeit und seinen brillanten, tragikomischen Witz, wodurch
Annie
Hall
zu einem sehr angenehm zwanglosen Werk über Zwänge wird. Diese Art
des psychologischen und auf menschliches Verhalten, vor allem in der Liebe und
im Verhältnis zwischen Männern und Frauen, anspielenden Witzes zieht
sich - wenn auch fast immer in wesentlich weniger ausgeprägter Form als
in Allens wichtigstem Film der Fall - sogar noch bis hinein in die heutige TV-Landschaft,
in der sie in meinen Augen besonders durch die Serie Ally
McBeal
repräsentiert wird.
Deswegen
ist Annie
Hall
auch filmhistorisch betrachtet interessant anzuschauen, kann man doch in der
Geschichte der bewegten Bilder vier bedeutende und prägende Zeitalter der
Komödie feststellen, die ich hier mal an einigen Filmen kurz verdeutlichen
möchte: Zu Beginn der Komödie stehen klassische Slapstick-Werke wie
Charles Chaplins The
Gold Rush
(1925) oder Clyde Bruckmans und Buster Keatons The
General
(1927), es folgt Billy Wilders Meisterwerk Some
Like It Hot
(1959), der den Meilenstein der leicht clownartigen, sozialkritischen und auch
etwas frivolen Komödie markiert, die besonders durch eine Vielzahl sehr
großer Schauspieler geprägt war, mit Roman Polanskis The
Fearless Vampire Killers
(1969) kam dann die echte Parodie und schließlich mit Allens Annie
Hall
die psychologische Beziehungskomödie. Mit dem letztgenannten Werk ist Woody
Allen seinerzeit ein exzellentes Meisterstück gelungen, das durch zwei
bravouröse Hauptdarsteller, ein geniales Drehbuch und eine zwar respektlose,
aber sehr eigenständige und unabhängige Regie einen würdigen
Meilenstein in der Kinogeschichte darstellt!
Janis
El-Bira
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
mehrere Kritiken
Der
Stadtneurotiker
(Annie
Hall, 1977)
Premiere:
20. April 1977 (USA)
Dt.
Start: 20. April 1977
Regie:
Woody Allen
Drehbuch:
Woody Allen & Marshall Brickman
Land:
USA
Länge:
93 min
Darsteller:
Woody
Allen (Alvy Singer), Diane Keaton (Annie Hall), Tony Roberts (Rob), Carol Kane
(Allison), Paul Simon (Tony Lacey), Shelley Duvall (Pam), Janet Margolin (Robin),
Colleen Dewhurst (Annies Mutter), Christopher Walken (Duane Hall), Donald Symington
(Annies Vater), Helen Ludlam (Annies Oma), Mordecai Lawner (Alvy's Vater), Joan
Newman (Alvy's Mutter), Jonathan Munk (Alvy mit 9), Ruth Volner (Alvy's Tante)
zur
startseite
zum
archiv