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Stalker
Reise
in die Innenwelt des Menschen
„Ursprung
allen ist das Wasser!“
(Thales
von Milet, ca. 600 v.Chr.)
Die
meisten Filme können ohne Weiteres in einen beliebig klassifizierbaren
Kanon eingereiht werden: Sie beziehen sich auf andere, vorhergehende Filme und
die darauf folgenden wiederum beziehen sich auf diesen. Sei es der ihnen zugrunde
liegende Mythos, seien es die Erzählstrukturen oder auch die angewandte
Technik, mit der diese umgesetzt wurden. Auf Film A folgt Film B folgt Film
C - am Ende der Reihe steht schließlich das "Genre" und, in
großem Maße, die Filmgeschichte. Das allein ist noch nichts schlechtes,
ganz im Gegenteil - ohne diesen Kanon würden vermutlich die meisten Filme
ökonomisch gar nicht funktionieren. Dann aber wiederum gibt es - zugegeben,
es sind nur sehr wenige - Filme, die einfach nur "sind". Stoisch stehen
sie in der Filmgeschichte, ohne sofort ersichtlichen Bezugspunkt, ohne größere
Impulse. Dem Monolithen aus Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum",
der im übrigen auch ein eben solcher Film ist, nicht unähnlich, thronen
sie in der (filmischen) Landschaft und warten darauf, von sichtlich faszinierten
und doch schockierten Primaten ertastet und empfunden zu werden. „Stalker“,
aus dem Jahre 1979 des russischen Filmpoeten Andrej Tarkowskij, ist einer dieser
bemerkenswert unantastbaren Filme.
Vor
langer Zeit fand in einem bewohnten Gebiet, welches später nur noch als
die ZONE bezeichnet werden würde, eine regional alles menschliche Leben
vernichtende Katastrophe statt – ein niedergegangener Meteorit? Vielleicht sogar
ein außerirdischer Angriff? Die Wissenschaft ist sich uneins, zumal auch
keine der Erkundungstruppen zurückgekehrt sind. Als Konsequenz dieser diffusen
Unsicherheit wurde die ZONE schließlich militärisch abgeriegelt –
die scheinbar post- apokalyptische, zumindest aber sich mitten im Siechtum befindende,
triste Gesellschaft eines nicht namentlich genannten „kleinen Landes“ riegelte
sich hermetisch vor dem nicht näher Erklärbaren ab.
Das
Betreten der ZONE gilt als Straftat höchsten Ranges, nicht zuletzt wohl
auch wegen der zahlreichen Gerüchte, die ZONE könne die größten
Wünsche der Menschen erfüllen. Von deren Wahrheitsgehalt ist der STALKER,
der gebrochene, fast autistisch introvertiert wirkende, aber dennoch charismatische
‚Anti-Held’ des Filmes, überzeugt und sieht es als seine innerste Berufung,
nicht minder gebrochene Menschen, denen nur noch die Hoffnung im Leben geblieben
ist, in die Zone zu führen, wovon ihn nicht einmal die strengen sozialen
Sanktionen durch Justiz und die eigene Familie abhalten können. Seinen
wirklichen Namen kennen wir nicht, ebenso wenig wie den des SCHRIFTSTELLERS
und des WISSENSCHAFTLERS, die sich vom STALKER in die ZONE führen lassen
wollen. Nachdem man sich an den Posten des Militärs erfolgreich vorbeigeschlängelt
hat, folgt eine zutiefst meditative Reise quer durch die ZONE, eine ruhige,
geheimnisvolle Naturlandschaft, in der sich laut dem STALKER "ein sehr
kompliziertes System von Fallen, die allesamt tödlich sind" verstecken
soll, hin zu jenem mythischen „Zimmer“, welches, dem Glauben nach, den geheimsten
Wunsch eines Menschen zu erfüllen vermag. Erst hier sollen sich die wahren,
denkbar unterschiedlichen Beweggründe des SCHRIFTSTELLERs, des WISSENSCHAFTLERs
und des STALKERs für diese verbotene Reise offenbaren.
Eine
Geschichte also, die nicht unbedingt so eigen klingt, wie man zunächst
vielleicht nach den einleitenden Worten vermutet hätte; man möchte
vielmehr fast schon sagen, dass dieses Grundgerüst wohl schnell in einen
beliebigen Science-Fiction-Film umgewandelt werden könnte, der schneller
vergessen als gesehen ist. Doch wie so oft in Tarkowskijs Filmen ist nicht etwa
der Plot, sondern dessen Auflösung in einem bildgewaltigen Ästhetizismus
das Reizvolle. Unterlegt von minimal-meditativen Synthesizer-Klängen, entführt
uns Tarkowskij in eine filmisch-künstlerische Welt, in der sich Verfall,
Verzweiflung, tragische biographische Brüche und deren Indizien in sichtlich
gezeichneten Gesichtern und den urbanen Landschaften außerhalb der Zone,
mittels ungeheuer detailreicher Bildkompositionen und langer, ruhiger Kameraeinstellungen
zu einem ästhetisch ansprechenden Fest für die Sinne erheben.
Getreu
den kultur-philosophischen Überlegungen von Susan Sontag in ihrem Standardwerk
„Über Fotografie“ wird in STALKER selbst noch das hässlichste, dreckigste
Motiv zu einem wunderschönen Abbild, das zum genussvollen Darin-Lesen einlädt.
Nie zuvor und wohl nie mehr danach waren unrasierte, vor Dreck verschmierte
Menschen mit fettigen, zerzausten Haaren schöner im Kino anzusehen als
in dieser Liebeserklärung an die Kunstform „Film“ und seiner Möglichkeiten
und Ausdrucksweisen. Und so schwelgt der Film kunstvoll in Bilderwelten des
Verfalls und setzt selbst Banalitäten wie verrottende Gegenstände
im Wasser kunstvoll in Szene. Die Länge von knapp 3 Stunden tut ihr übriges,
um den meditativen Gesamteindruck des Filmes noch zu verstärken: „STALKER“
fordert Zeit und Aufmerksamkeit und belohnt mit im Kino nur selten so erfahrener
angenehmen Ruhe und Entspannung.
Einer
der peinlichsten Sätze, der einem Filmfreund über die Lippen kommen
kann, ist der, dass ein Film doch gerade dann umso besser ist, wenn jeder etwas
ganz eigenes draus ziehen und darin lesen könne. Was in der Regel einer
Ablehnung jeglicher Film- und Diskussionskultur gleich kommt - warum schließlich
über etwas debattieren, wenn am Ende eh nur dem absoluten Subjektivismus
das Wort geredet wird? - und das Filmerlebnis somit in der nicht selten delirierenden
Beliebigkeit verortet wird, ist in diesem Falle ausnahmsweise einmal von Bestand.
So ist „STALKER“ als eine Art „absolutes Kunstwerk“ in der Tat aufgrund seines
streng meditativen Charakters offen für höchst subjektive Empfindungen
und Analysen: Der Film- und Kulturwissenschaftler erfreut sich an der allgegenwärtigen
„Ästhetik des Wassers“, den zahlreich verwendeten Metaphern der »Basiselemente«
Feuer, Wasser und Erde, sowie die vielfältigen Art und Weisen der Chiffrierung
des Kerns des Films. Freunde der etwas knackigeren „Rätselfilme“ können
noch Stunden nach dem Kinoerlebnis bei einem Glas Wein bis tief in die Nacht
leidenschaftlich über die Bilder und Symbole des soeben Gesehenen diskutieren,
während eher philosophisch angehauchte Cineasten in erster Linie den kunstvoll
eingebetteten Subtext des Filmes genießen, so ist „STALKER“ doch neben
dem reinen Plot der Reise in die ZONE doch auch eine geistige Meditation über
den Menschen in seine 3 Determinanten Natur/Religion/Mystik (der STALKER), Kultur
(der SCHRIFTSTELLER) und der analytischen Aufklärung und Vernunft (der
WISSENSCHAFTLER), einmal ganz abgesehen von der Fragestellung, was denn nun
im Kern den Menschen und seine Leidenschaften (das ZIMMER und der WUNSCH) ausmacht!
Ganz andere, weniger theorielastig orientierte Menschen wiederum sehen in „STALKER“
schlicht und ergreifend einen ästhetisch wunderbaren und überwältigenden
Film, der Kraft seiner Bilder zum stillen Genießen und Entspannen einlädt,
ohne dass großartig das „Warum?“ dahinter erörtert werden müsste
– ganz ähnlich wie man sich ja auch einer entspannenden Massage ohne darüber
nachzudenken hingibt: schlicht der Genuss des Schönen um des Schönen
willen. Jede einzelne dieser kurz angerissenen möglichen Lesarten, welche
wohl noch längst nicht alle Zugänge zu diesem filmischen Meisterwerk
darstellen, ist für sich genommen absolut legitim. Erst der einzelne Zuschauer
ist es, der den Film komplettiert – eine Sichtweise, die dem zutiefst humanistisch
orientierten Regisseur Tarkowskij wohl gefallen würde.
Kurzum:
„STALKER“ ist, trotz seines filmgeschichtlich sichtlich sperrigen Charakters,
wohl für jede „Art von Kinogänger“ eine pure Freude, genügend
Geduld und Aufgeschlossenheit vorausgesetzt. Ein Filmerlebnis wie es in der
Geschichte der bewegten Bilder kaum ein vergleichbares gibt und eine ästhetische
Vision jenseits der Filmgeschichte und gängiger Genre- und Narrationsreglements.
Ein schweigsamer Monolith, dessen Geheimnisse es zu erforschen gilt. Nach Möglichkeit
auf der großen Leinwand, denn für diesen Ort der Magie der Moderne
ist er geschaffen worden.
Thomas
Groh
Dieser
Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Stalker
(Stalker)
Sowjetunion
1979, 163 Minuten (DVD: 154 Minuten)
Regie:
Andrej Tarkowskij
Drehbuch:
Arkadi und Boris Strugatzki, nach Motiven ihrer Novelle "Picknick am Wegesrand"
Musik:
Eduard Artemjew
Kamera:
Alexander Knjashinski
Schnitt:
L. Fejginova
Produktionsdesign:
Andrej Tarkowskij
Darsteller:
Alexander Kajdanowski (Stalker), Nikolai Grinko (Wissenschaftler), Anatoli Solonizyn
(Schriftsteller), Alissa Frejndlich (Stalkers Frau), Natasha Abramova (Martha,
Stalkers Tochter, genannt Äffchen)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0079944
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