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Still Life
Wie
eine Stadt versinkt
Denkmal für einen Ort,
den es nicht mehr gibt: Jia Zhangkes neuer, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneter
Spielfilm "Still Life" entstand in der chinesischen Provinzstadt Fengjie,
die beim Bau des Drei-Schluchten-Staudamms geflutet wurde
"Still Life" des chinesischen
Regisseurs Jia Zhangke ist ein Film der unterschiedlichen Rhythmen und Zeitläufe.
Eine jahrtausendealte Stadt verschwindet. Die Bevölkerung muss abrupte
Transformationen bewältigen, weil China den Durchmarsch an die ökonomische
und politische Weltspitze plant. "Still Life" spielt in Fengjie, einer
Stadt am Jangtse-Fluss, vor dem Hintergrund der Bauarbeiten am größten
Staudamm der Welt. Mit kritischem Unterton und anhand zweier Schicksale erzählt
er exemplarisch von den Veränderungen, die das staatlich verordnete Projekt
der Modernisierung nicht nur entlang des Jangtse, sondern überall im Land
in Gang setzen.
Dem Gigantismus des Jahrhundertvorhabens
setzt Regisseur und Drehbuchautor Jia Zhangke ohne Sentimentalität, aber
mit einer Riesenportion Empathie die Perspektive derjenigen entgegen, die im
Alltag und in ihren Lebensläufen die Konsequenzen des Prestigebaus zu tragen
haben. So entsteht das eindringliche Porträt eines Lebens, das von einem
einzigen Orientierungspunkt bestimmt wird: der Markierung des jeweils nächsten
Wasserstandspegels, die Abrissarbeiter immer höher auf die Häuser
der Stadt pinseln, die zum Untergang verurteilt ist. Zweitausend Jahre lag die
Provinzstadt Fengjie an den Ufern des längsten Flusses Chinas. In nur zwei
Jahren wurde ihr kulturell bedeutender Altstadtkern vom angestauten Wasser überflutet.
"Still Life" ist - neben der Dokumentation "Yan Mo -
Vor der Flut"
(2005) von Yan Lu und Li Yifan, der ebenfalls in Fengjie entstand - das filmische
Denkmal eines Ortes, den es nicht mehr gibt.
Han Sanming (der sich selbst spielt),
Bergmann in einer Kohlenmine im Norden des Landes, hat die lange Reise in die
Südprovinz an den Drei-Schluchten-Staudamm auf sich genommen, um seine
Tochter zu finden. Vor sechzehn Jahren hat ihn seine Frau, die aus der Gegend
stammt, mit dem gemeinsamen Kind verlassen, um in ihre Heimat zurückzukehren.
Zur gleichen Zeit kommt auch Guo Shenhong (Tao Zhao), eine Krankenschwester,
in der Stadt an. Auch sie sucht ihren Ehepartner, der vor Jahren eine Stelle
in Fengjie angenommen hat. Seitdem ist der Kontakt zwischen dem Paar abgerissen.
Der Film erzählt beide Suchen alternierend, zeigt uns so verschiedene und
doch nicht so verschiedene Sichtweisen auf die Umbrüche, die ungebildete
und gebildete Schichten gleichermaßen betreffen.
Gleich nach seiner Ankunft lässt
sich Han Sanming zum Haus seiner Frau fahren. Alles was er hat, ist eine auf
die Rückseite einer Zigarettenschachtel gekritzelte Adresse. Doch das Haus,
die Straße, das gesamte Viertel liegen längst unter den Fluten. Er
findet seinen Schwager, der ihn weniger als freundlich empfängt, und erfährt,
dass seine Frau irgendwo flussabwärts arbeitet. Also wird er bleiben, warten,
einen Job bei den Abreißern annehmen und zusehen, wie die Stadt versinkt.
Wie der Fortschritt und der Aufbau
des Neuen das Verschwinden des Alten verlangen, dafür findet "Still
Life" seine denkwürdigsten Bilder. Während die Regierung alle
Kräfte, Maschinen und Ingenieurskunst auf die Erweiterung des Staudamms
konzentriert (ein Ort, den der Film weitgehend ausspart - nichts liegt Jia Zhangke
ferner, als heroische Propagandaszenen für das staatliche Vorzeigeprojekt
zu liefern), demontieren unzählige Abbruchtrupps in drückender Hitze
die evakuierten Häuser, ausgestattet mit nichts als ihren Vorschlaghämmern
und ihrer Muskelkraft. Die Desinfektionstrupps, die gleich nebenan die Trümmerhaufen
besprühen, tragen weiße Schutzanzüge und Gesichtsmasken. Die
Arbeiter haben oft nicht einmal ein T-Shirt am Leib.
Wer körperlich nicht zum
Abreißer taugt, muss sich anders durchschlagen, ob legal oder illegal.
Wer in einem staatlichen Büro die Evakuierung und Zwangsumsiedlung der
Bevölkerung verwaltet, kann satte Bestechungsgelder einstreichen. Schnaps
und Zigaretten sind das gängige Tauschmittel. In seiner ersten Unterkunft
lernt San-ming Han einen jungen Mann kennen, der sich nur mit "Bruder Mark"
anreden lässt - nach seinem Vorbild Chow Yun-Fat in "A Better Tomorrow".
Er ahmt Posen und Haltung des Filmstars nach und mimt den abgebrühten Kriminellen.
Später wird Han ihn tot auffinden, begraben unter einem Schutthaufen.
"Still Life" führt
eindrücklich vor, wie von den Wassern des Jangtse nicht nur Gebäude
und historische Denkmäler, sondern auch eine ganze Kultur verschlungen
wird. Seit Menschengedenken war der Fluss, der in den Höhen des Himalaja
entspringt und sechstausend Kilometer später ins Ostchinesische Meer mündet,
eine immense Naturgewalt. Hunderttausende verloren bei Überschwemmungen
und Flutwellen allein im letzten Jahrhundert ihr Leben. Seine Bändigung,
an der sich bereits Generationen früherer chinesischer Machthaber von Sun
Yatsen bis Mao Zedong erfolglos versucht hatten, soll nun nicht nur den Strom
liefern, den die Zukunft der Wirtschaftsmacht China braucht. Sie soll vor allem
der Welt den Aufbruchswillen des Landes verdeutlichen. Die Sicherheit wird jedoch
mit radikalen sozialen und biografischen Verwerfungen erkauft; die natürlichen
Überschwemmungen werden ausgerechnet durch eine künstlich hergestellte
Flut verhindert - dieses Paradox macht Jia Zhangkes grandioser und intimer Film
anschaulich greifbar.
Wo Menschen entwurzelt werden,
wird die Heimat zur Erinnerung. Han Sanming und seine Kollegen sind aus dem
ganzen Land angereist, weil Arbeiter zur Demontage gebraucht und besser bezahlt
werden als anderswo. Ihre Heimat tragen sie dennoch immer bei sich: in den Motiven
der Geldscheine, mit denen sie bezahlt werden. Stolz zeigen sie beim abendlichen
Schnaps in der beengten Unterkunft die Scheine herum wie Postkarten. Derjenige,
dessen Heimat einen hohen Nennwert trägt, wird als glücklicher Mann
gepriesen.
Wo Menschen entwurzelt werden,
zählen alte Versprechen nichts mehr. Als Shen-hong Guo endlich nach mehreren
erfolglosen Versuchen ihren Mann findet, findet sie ihn mit seiner Vorgesetzten
liiert. Sie rennt fort, er folgt ihr. Am Fuße des Staudamms tanzen sie
auf einer Promenade kurz miteinander zur Musik aus einem öffentlichen Lautsprecher,
dann gesteht sie ihm, dass auch sie sich in einen anderen Mann verliebt hat,
und verlangt die Scheidung.
"Still Life", 2006 mit
dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnet, ist der fünfte Spielfilm
des international renommierten Regisseurs Jia Zhangke, der schon in Filmen wie
"Pickpocket" (1997), "Platform" (2000) oder "The World" (2004) anhand der Schilderungen
eines unspektakulären Lebensalltags mit genauem Auge die Umwälzungen
in seinem Land registriert. Jia Zhangke beherrscht die Kunst, die größten
Veränderungen wie beiläufig ins Bild zu setzen. Das kann behutsam
sein, wie in einer Szene, in der sich junge Darsteller in Kostümen der
Peking-Oper die Zeit zwischen den Auftritten mit Videospielen vertreiben; oder
auf surreal-fantastische Weise geschehen wie im Traumbild der unvollendeten
Betonruine, die plötzlich als Rakete gen Himmel rast.
Wer in China von dem, was mit
China passiert, berichten will, muss die Strategien des Zeigens und Verbergens
beherrschen. Im taz-Interview berichtet Joa Zhangke von seinen Erfahrungen mit
den chinesischen Zensurbehörden: Für einen international bekannten
Filmemacher wie ihn sei es zwar leichter geworden, Forderungen durchzusetzen.
Immer noch herrsche aber Willkür in der Zensur, und viele seiner weniger
bekannten, jungen Kollegen der sogenannten sechsten Generation müssen weiterhin
mit Berufsverbot rechnen.
Dietmar Kammerer
Dieser Text ist zuerst erschienen in der taz vom 4.10.2007
Zu diesem
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mehrere Texte
Still Life
China / Hongkong 2006 - Originaltitel: Sanxia haoren - Regie: Jia Zhang-Ke - Darsteller: San-ming Han, Tao Zhao, Hong-wei Wang, Zhu-bin Li, Hai-yu Xiang, Lin Zhou, Li-zhen Ma, Zhou Lan, Yong Huang, Jin-sheng Li - Länge: 108 min. - Start: 4.10.2007
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