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Still
Life
UFO
über dem Jangtse
Versinkende
Städte, verzauberte Dollars: Chinas wichtigster Gegenwartsregisseur Jia
Zhang-ke gleitet mit „Still Life“ meisterlich durch den Schutt eines Wirtschaftswunderlands.
Das
im Wandel begriffene China, das Jia Zhang-ke seit nunmehr fünf Spielfilmen
portraitiert, ist ein Ort für Trickbetrüger und Finanzartisten: Zu
Beginn von „Still Life“ verwandelt ein Zauberer an Bord einer Fähre weißes
Papier in Dollarnoten. Danach presst sein Assistent jedem einzelnen der harsch
zusammen getriebenen Zuschauer eine „Spende“ ab. Han Sanming (verkörpert
von einem Schauspiellaien gleichen Namens) ist von beidem sichtlich unbeeindruckt.
Nicht die Hoffnung auf eine glorreiche turbokapitalistische Zukunft, sondern
eine Spur aus der Vergangenheit führt den Bergarbeiter an den prestigeträchtigen
Drei-Schluchten-Damm: In der Stadt Fengji will er seine Exfrau und Tochter ausfindig
machen. Weil die Straße, in der sie gewohnt haben, aber längst unter
dem Wasserspiegel des Stausees steht und der Computer am Meldeamt bei Sanmings
Anfrage kollabiert, bleibt er in Fengji stecken.
Die
Kulisse, vor der Jia Sanmings Suche inszeniert, ist spektakulär: Ganz Fengji,
einst ein Zentrum klassischer chinesischer Kultur, gleicht derzeit einer riesigen
Schutthalde. Weiße Linien markieren die nächste Staustufe des gigantischen
Damms am Jangtse-Fluss, dessen Wasserkraftturbinen 2008 in Vollbetrieb übergehen
sollen: Dann wird die Stadt versunken sein. Während Sanming bald mit Abrissarbeiten
seinen Unterhalt verdient, schickt Jia eine zweite Suchende nach Fengji: Die
Krankenschwester Shen Hong (Zhao Tao, eine Stammschauspielerin Jias) will ihren
Mann aufspüren, den sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat.
Trümmerlandschaften,
Beziehungsruinen, Fortschrittsopfer – der metaphorische Mehrwert des Settings
ist unübersehbar. Und es spricht für Jias Meisterschaft im Umgang
mit filmischem Raum und (größtenteils Laien-)Darstellern, dass er
es zustande bringen kann, das zerbröcklende Fengji in ausgefeilten Kompositionen
in Szene zu setzen, ohne dabei die Menschen, die dort schuften oder durch die
Gegend streunen, unter der allegorischen Bedeutungslast zu zerquetschen.
Ähnlich
wie der geistesverwandte Thailänder Apichatpong Weerasethakul stattet Jia
seine Filme bei aller formalen Strenge mit einprägsamen Charakterminiaturen
und einem sympathisch windschiefen Humor aus: Der Bub, der hier andauernd geschäftig
herummarschiert und dabei lauthals Liebeslieder singt, könnte auch aus
einem Howard-Hawks-Film stammen. Doch wo Weerasethakul im Zweifelsfall lieber
den Launen der eigenen Formschöpfungen folgt, bleibt Jia selbst in dieser
seiner bis dato konzeptuellsten Arbeit der semidokumentarischen Abbildung harscher
Alltagswelten verpflichtet: Gegen Ende wird, ganz lapidar und umso herzzerreißender,
ein verunglückter Arbeiter im Schutt gefunden werden.
Selbst
wenn für ein paar Momente das Phantastische in den (ohnehin unverhohlen
stilisierten) Realismus des Films eindringt, hat das seine Richtigkeit: In der
Ferne sehen Sanming und Shen Hong einmal ein UFO über den Himmel gleiten,
aber lost
in space
sind sie selber, wie sie durch die Trümmer eines Wirtschaftswunderlands
stapfen. Im Fleckerlteppich der Mentalitäten, als den Jia das heutige China
inszeniert, – neureicher Prunk in der Managerschicht, Popkultur-Idolatrie unter
den Jugendlichen, Schauprozessrhetorik im Fabriksvorstand – sind die beiden
mehr Zuschauer als Teilnehmer, kippen aus Raum und Zeit. Irgendwann, in einem
der schönsten unnützen Kinomomente des Jahres, wiegt sich Shen Hong
auf der Suche nach Abkühlung vor einem Ventilator hin und her. Für
einen Augenblick ist es, als ob sie mit ihm tanzt.
Joachim
Schätz
Dieser Text
ist zuerst erschienen in: www.falter.at
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mehrere Texte
Still Life
China / Hongkong 2006 - Originaltitel: Sanxia haoren - Regie: Jia Zhang-Ke - Darsteller: San-ming Han, Tao Zhao, Hong-wei Wang, Zhu-bin Li, Hai-yu Xiang, Lin Zhou, Li-zhen Ma, Zhou Lan, Yong Huang, Jin-sheng Li - Länge: 108 min. - Start: 4.10.2007
DVD Infos
Verkaufsstart: 3. Juli 2008, erschienen beim: Delphi Filmverleih
Bonusfilm: DONG (66 Minuten)
weiteres Bonusmaterial: Hintergrundinfos, Bildergalerie, Kinotrailer, Programmtipps
Sprachfassung: Dolby SR
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