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Süßes
Gift
Mörder
oder Künstler
»Folies
Bourgeoises« – so hieß ein Film von Claude Chabrol aus dem Jahr
1975, und von nichts anderem erzählt dieser Regisseur, unermüdlich,
mal grimmig-böse, mal neugierig gelassen: von den Verrücktheiten der
Bürger. Die besten Chabrol-Filme gehen in ihrem Zerstörungswerk bis
zum Ende: Kein Stein bleibt auf dem anderen, keine Gemeinheit bleibt unprobiert,
kein grotesker Tod ungestorben. Seine schönsten Filme aber sind Meisterwerke
in der Kunst des Weglassens, des Antupfens und Akzentuierens. »Süßes
Gift« gehört vielleicht nicht zu den besten, aber wohl zu den schönsten
Filmen von Claude Chabrol.
Wenn
man zumindest den ersten Teil des Plots mitteilt – der aus dem Buch »The
Chocolate Cobweb« von Charlotte Armstrong stammt – sollte man vielleicht
gleich anfügen, daß er nicht über die Maßen viel zu besagen
hat. In Lausanne führt die schöne Marie-Claire Muller, in der Familie
Mika genannt, die Schokoladenfabrik ihres verstorbenen Vaters. (Wieder) verheiratet
ist sie mit dem genialen Pianisten André Polonski. Zusammen mit Andrés
Sohn Guillaume aus einer anderen Ehe bildet man eine Familie, so ruhig und ausgeglichen
wie die Wasser des Sees, die uns zwischendurch immer einmal gezeigt werden.
Und ungefähr so trügerisch.
Denn
es gibt eine alte Geschichte, nicht der Rede wert, eigentlich. Die junge Musikerin
Jeanne erfährt von einer Freundin der Mutter, daß man sie nach ihrer
Geburt im Krankenhaus kurz mit dem Kind des berühmten Polonski verwechselt
hat. Gegen den Widerstand ihrer Mutter macht sie sich auf ins Haus des großen
Künstlers. Schließlich könnte es ja doch sein, daß sich
die musikalische Begabung nicht durch Zufall entwickelte. Daß da in der
Familie etwas nicht stimmt, bekommt sie sehr rasch mit. In der Schokolade, die
Mirka ihrem Stiefsohn kredenzte und bei ihrem Erscheinen betont nachhaltig verschüttet,
findet Jeannes Freund, der im medizinischen Labor von Jeannes Mutter arbeitet,
Spuren eines Gifts. Aber vielleicht geht ja auch Jeanne in ihrer merkwürdigen
Suche nach dem Vater, nach der anderen Familie zu weit. Derweil offeriert Polonski,
seltsam angerührt, der jungen Frau Piano-Lektionen. Wie spielt man Liszts
Trauermusik? Wie zum Begräbnis, oder doch nur ganz subtil? Mit einer trotzigen
Pedal-Arbeit gegen jede Undeutlichkeit der Melancholie? Wieviel ich und wieviel
Liszt ist in der Bewegung meiner Hand, die die Tasten drückt?
In
Wahrheit gibt uns Monsieur Chabrol, während sich hinten das Unheil in Form
einer sehr kranken Seele in einer kranken Familie abzeichnet und vorne zwei
offensichtlich verwandte Seelen sich in einem schönen Trauerreigen finden
(wie unbarmherzig Musik doch auch jene ausschließen kann, die ihrer nicht
teilhaftig sind!), auch eine Lektion in Sachen Kino. Die Melodie ist nichts,
und wenig erst ihre Variation. Beinahe jeder könnte sie spielen. Es kommt
darauf an, wie man die Akzente setzt. Wie man sich traut, einen Ton so abrupt
enden zu lassen, zum Beispiel, daß er als große Frage in den Köpfen
der Zuhörer (und der Kinozuschauer) bleibt. Wie sich Sanftheit und Eigen-Sinn
zueinander verhalten. Wie wir aus einer Trauerode die Traurigkeit so radikal
herauskürzen, daß nur die Trauer übrigbleibt.
Und
wie wir vielleicht-vielleicht-nicht Vater und Tochter am Klavier sehen, kämpfend
und liebend um die Partitur, so arbeiten auch Chabrols Schauspieler, Isabelle
Huppert, Jacques Dutronc, Anna Mouglalis, Rodolphe Pauly. Ihre »Rollen«,
die in den realen und irrealen Familien und die im Drehbuch, sind jene Partituren,
denen man erst durch die Akzentuierung, durch den Anschlag Leben verleiht. Entschlossen
und vorsichtig.
»Süßes
Gift«, der im Original sehr viel tückischer »Merci pour le
chocolat« heißt, erzählt von der giftigen Wirklichkeit der
bürgerlichen Familie als Ausgangsmaterial für die süße
Komposition der Möglichkeiten: Kunst. Und umgekehrt von der Form des Zusammenlebens,
die ihren Inhalt aufhebt: Mord. Weil der bürgerliche Mensch nicht anders
kann, als in der Familie zu leben, muß er entweder zum Mörder oder
zum Künstler werden. Chabrol, der von sich behauptet, nichts von Psychologie
zu halten, gibt für das Verhalten der Menschen in seiner gehaßliebten
Bürgerklasse keine Begründungen in unseren bekannten Sinnsystemen.
Wie bei den »Biestern« in seinem Film »La Ceremonie«
führen sogar die Erklärungen noch einmal in die Irre. Die Verrücktheit
der bürgerlichen Familie ist weder willkürlich noch sinnvoll. Sie
ist die andere Seite der Ordnungen. Deshalb kommt auch in »Süßes
Gift« alles so unerwartet, wie es kommen muß.
Note:
2-
Georg
Seeßlen
SÜSSES
GIFT - Merci pour le chocolat
von
Claude Chabrol, F (CH) 2000, 99 Min. mit Isabelle Huppert, Jacques Dutronc,
Isolde Barth, Anna Mouglalis, Rodolphe Pauly
Psycho-Thriller
Start:
04.01.2001
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