Summer of Sam
Raus aus dem Ghetto
Spike Lee erzählt wieder von New York
Zu den Mythen, die sich um die US-Metropole New York ranken, gehört das Bild
des brodelnden Molochs, der ständig überzukochen droht. Glaubt man den
Chronisten, so gab es in der Geschichte New Yorks immer wieder Phasen, in denen
sich die Stadt an den Rand der Unregierbarkeit brachte. Der Sommer 1977 gehörte
dazu. Die Temperaturen stiegen bis auf über 40øC. Die sexuelle Revolution
feierte in Lasterhöhlen fröhliche Feste. Heroin eroberte die Straßen.
Stromausfälle führten zu Randale und Plünderungen, und ein Serienkiller namens
Son of Sam erschoss Liebespaare auf Autorückbänken.
Der afroamerikanische Regisseur Spike Lee erinnert mit Summer of Sam an diesen
Sommer im italienischen Teil der Bronx. Hier ist New York wie ein Dorf. Jeder
kennt jeden und jeder kennt Vinny (John Leguizamo), den jungen Friseur, der
seine Kundinnen reihenweise vernascht. Nur seine Frau Dionna (Mira Sorvino) weiß
nichts von Vinnys außerehelichen Aktivitäten. Zu Hause überwiegen
Sprachlosigkeit und Missionarsstellung. Als Vinny eines nachts nur knapp einem
Anschlag des Serienkillers entgeht, hält er das - ganz Katholik - für eine
göttliche Warnung.
Die Morde und bizarren Bekennerschreiben des Son of Sam sorgen auch in der
Italo-Gemeinde für hysterisches Misstrauen. Die lokale Mafia lässt eine Liste
von Verdächtigen aufstellen. Vinnys Freund Ritchie (Adrien Brody) ist der erste
Punk im Viertel und trägt seit kurzem einen gigantischen Irokesenschnitt. Als
herauskommt, dass er in einem Schwulen-Lokal als Stripper arbeitet, landet
Ritchie auf Platz 1 der Verdächtigenliste. Ausgerechnet sein bester Freund Vinny
soll ihn ans Messer liefern.
Wie in Do The Right Thing zeigt Spike Lee auch in Summer of Sam die dörfliche
Vertrautheit und bedrohlichen Enge der Ghettogemeinde. Nur am Rande ist Summer
of Sam ein Serienkillerfilm. Die Morde sind zwar mit subjektiver Kamera
spekulativ in Szene gesetzt, aber in erster Linie präsentiert sich der Film als
atmosphärisch dichtes Porträt der Spätsiebziger und Lehrstück über die
Wirkungsmechanismen kollektiver Hysterie.
Lees letzte Filme litten zunehmend unter der Zeigefingerdidaktik des
Ghetto-Übervaters. Mit Summer of Sam hat er sich erstmalig einer weißen
Community zugewendet und sich von seinem plakativen pädagogischen Stil befreit.
Aber obwohl Spike Lee mit rasanten Schnitten, hochbeweglicher Kamera,
ausgetüftelter Farbdramaturgie und kraftvollem Soundtrack das ganze
Handwerkszeug seiner Werbefilmkarriere in die Waagschale wirft, scheint der Film
mit seinen Figuren nie richtig warm zu werden. John Leguizamo, Mira Sorvino,
Adrien Brody und Ben Gazzara zeigen sich allesamt in Bestform. Aber die Kamera
findet in ihrem apokalyptischen Delirium keinen direkten Zugang zu den Figuren,
und die Dramaturgie ist zu sehr auf die eigene Mechanik konzentriert. Seltsam
unberührt lässt einen Spike Lees überhitztes Melodram um Freundschaft, Hysterie
und Verrat im Kinodunkel zurück.
Martin Schwickert
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Summer of Sam
USA 1999 R: Spike Lee B: Spike Lee, Victor Colicchio K: Ellen Kuras D: John
Leguizamo, Adrien Brody, Mira Sorvino
www.mfa-film.de