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Tesis – Faszination des Grauens
Torturen
...
Bevor Alejandro Amenábar
so berühmt gewordene Filme wie "Öffne die Augen" (1997), "The Others" (2001) und "Das Meer in mir" (2004) drehte, wurde
er 1996 mit einem Film bekannt, in dem er bereits seine Vorliebe für psychologische
Thriller auslotete. "Tesis" spielt - wie die beiden erst genannten
Filme - vor allem mit dem Mittel der Täuschung, die sich sowohl über
die Geschichte und Charaktere selbst, als auch über die Bilder vermittelt.
• I N H A L T •
Die Handlung spielt im Universitätsbetrieb
in Madrid am Fachbereich für Kommunikationswissenschaften. Die Studentin
Ángela (Ana Torrent) hat ein Konzept für ihre Diplomarbeit im Fach
Medienwissenschaften erarbeitet, das sie Prof. Figueroa (Miguel Picazo) vorlegt.
Der ist sehr angetan. Ángela interessiert sich u.a. für Gewaltdarstellung
in den Medien und sucht nach Filmen, die wegen ihrer exzessiven Gewaltdarstellung
verboten wurden. Sie spricht ihren Kommilitonen Chema (Fele Martínez)
an, der sie zunächst barsch zurückweist, dann aber doch mit sich nach
Hause nimmt und ihr ein Gewaltvideo mit dem Titel "Flesh Blood" vorführt.
Ángela schaut nur ab und an angewidert den Folterszenen in diesem Video
zu.
Am nächsten Tag findet Ángela
Prof. Figueroa tot im Vorführraum der Fakultät. Sie nimmt das Video
an sich, das der Professor offenbar kurz zuvor dort gesehen hat, und geht damit
zu Chema, der sich den Film sofort ansieht. Entsetzt hält Ángela
die Hände vor ihre Augen. Der Film zeigt die Folterung, Ermordung und Zerstückelung
einer jungen Frau, die auf einen Stuhl gefesselt wurde. Chema sagt, er kenne
die Frau. Es sei Vanessa Romero (Olga Margallo), die vor Jahren spurlos verschwunden
sei, eine Studentin am Fachbereich.
Chema merkt, dass der Film geschnitten
wurde. Offensichtlich hat der Mörder all jene Passagen des Films herausgeschnitten,
in denen möglicherweise Vanessa seinen Namen nannte. Und Chema entdeckt
noch mehr: Der Film wurde mit einer zur Tatzeit gerade erst auf den Markt gekommenen
Kamera der Marke Sony XT-500 mit Digital-Zoom aufgenommen - einer sehr teuren
Kamera. Ángela hat Angst und will über die Angelegenheit eigentlich
nichts mehr wissen. Doch sie forscht dann doch weiter, sammelt Zeitungsausschnitte
über das Verschwinden von Vanessa, während sich Chema über einen
Bekannten an der Universität, der die Videokameras, die dort angebracht
sind, überwacht, Zutritt zum Archiv verschafft, aus dem Prof. Figueroa
offenbar das Video entwendet hatte. Chema entdeckt hinter einer Tür, die
zu den Räumen der alten Heizungsanlage führt, weitere Videos.
Inzwischen kümmert sich Prof.
Castro (Xabier Elorriaga) um Ángelas Diplomarbeit und übernimmt
die Vorlesungen des verstorbenen Figueroa. Castro interessiert sich besonders
für den Teil der Arbeit, in der Ángela Gewaltdarstellungen in Medien
behandeln will. Als Ángela in den Gängen des Fachbereichs einen
Studenten mit einer Sony XT-500 sieht, schöpft sie Verdacht, zumal der
Student, Bosco Herranz (Eduardo Noriega), bemerkt, dass Ángela ihn beobachtet,
und sie verfolgt. Ist er der Mörder Vanessas?
•
I N S Z E N I E R U N G •
Amenábar lässt lange
offen, wer hinter der Ermordung Vanessas stecken könnte. In Verdacht geraten
alle - außer Ángela:
- Bosco, der vorgibt, Ángela
zu mögen und sich ihr als sympathischer junger Kerl präsentiert. Trotzdem
sind Ángelas Gefühle ihm gegenüber ambivalent.
- Prof. Castro, der Ángela
das "Du" anbietet und sich anscheinend väterlich um sie und ihre
Diplomarbeit kümmert. Gleichzeitig verkündet er seinen Studenten gegenüber,
Filmemacher müssten ausschließlich solche Filme drehen, die das Publikum
will.
- Yolanda (Rosa Campillo), Boscos
Freundin, von der er sich trennen will. Bosco ist bekannt als jemand, der laufend
andere Freundinnen hat. Treibt die Eifersucht Yolanda zum Mord?
- Aber auch Chema sagt Ángela
nicht alles, was er weiß. Immerhin war er zusammen mit Bosco und Vanessa
in einer Arbeitsgruppe, die merkwürdige filmische Experimente diskutierte.
Nur diskutierte?
- Und welche Rolle spielte Prof.
Figueroa in diesem Dunkel an Verdächtigungen und Verbrechen?
"Tesis" ist ganz überwiegend
aus der Perspektive von Ángela gedreht, einer sehr ernst wirkenden jungen
Frau, die zwar bei ihren Eltern und ihrer Schwester Sena (Nieves Herranz) wohnt,
aber dennoch sehr zurückgezogen zu leben scheint. Einerseits ist sie von
der exzessiven Gewalt angewidert, andererseits zieht die Gewalt sie immer wieder
in ihren Bann: Sie will wissen, wer für diese Grausamkeiten verantwortlich
ist. Und das geht weit über das Thema ihrer Diplomarbeit hinaus. Ihr zur
Seite steht ein flippiger, mürrischer Kommilitone, Chema, der zu Hause
eine ganze Sammlung von Gewaltvideos, harten Pornos usw. angelegt hat. Und Ángela
kann nicht verstehen, wie sich Chema - ohne auch nur einmal angewidert wegzuschauen
- solche Filme ansehen kann.
Amenábars "Tesis"
ist über weite Strecken sehr spannend inszeniert. Und am Schluss scheint
Amenábar noch als i-Tüpfelchen auf seine Geschichte einen Schlag
gegen die Medien zu platzieren: Nach der Aufklärung des Falls zeigt das
spanische Fernsehen Auszüge aus einem der Foltervideos. Allerdings hat
die Inszenierung auch einige Ungereimtheiten. Zum einen flüchtet Ángela
vor Bosco Herranz innerhalb der Universität ausgerechnet in Bereiche, in
denen sich kein Mensch aufhält, anstatt - sie hat schließlich Angst
um ihr Leben, weil Bosco der Mörder sein könnte - dorthin zu laufen,
wo sich viele Menschen aufhalten, was angesichts des Universitätsbetriebs
auch leicht möglich gewesen wäre. Zum anderen, und das wiegt als Einwand
viel schwerer, erwägen weder Ángela, noch Chema, mit dem Video zur
Polizei zu gehen. Schließlich ist dieses Video ein klarer Beweis für
die Ermordung der damals verschwundenen Vanessa. Ángela geht selbst dann
nicht zur Polizei, als ihr und Chema bekannt wird, dass fünf weitere Opfer
auf die gleiche bestialische Weise gefoltert und ermordet wurden.
Dieses Verhalten ist kaum vernünftig
zu erklären. Denn schließlich wächst dadurch auch die Gefahr
für Ángela, selbst zur Zielscheibe des Mörders zu werden, sobald
der merkt, dass sie ihm auf der Spur ist. Statt dessen begibt sie sich
nachts (!) allein (!) in das Haus von Bosco (!), von dem sie zumindest vermutet,
er könne der Täter sein. All diese Mängel des Drehbuchs - und
anders kann man das nicht bezeichnen - dienen Amenábar "nur"
dazu, durch die Nichtbeachtung von Logik in dieser Hinsicht die äußere
Spannung aufrechtzuerhalten, anstatt z.B. zu versuchen, durch die Einführung
weiterer Verdächtiger die Geschichte zu "verschachteln", die
dann ermittelnde Polizei im Dunkeln "tappen" zu lassen, weil der wirkliche
Täter sie z.B. geschickt auf eine falsche Spur lockt usw. usf.
Auch die am Schluss etwas aufgesetzt
wirkende Medienschelte greift zu kurz, weil dieser Kritik ansonsten im Film
kaum eine Bedeutung zugemessen wird. Schade drum. Andererseits ist der Film
gut besetzt, vor allem durch Ana Torrent und Fele Martínez, und trotz
aller Kritik sei er zur Ansicht empfohlen.
Wertung: 8 von 10 Punkten.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen bei: follow me now
Tesis
- Faszination des Grauens
auch:
Tesis - Der Snuff-Film
(Tesis)
Spanien
1996, 125 Minuten
Regie:
Alejandro Amenábar
Drehbuch:
Alejandro Amenábar, Mateo Gil
Musik:
Alejandro Amenábar, Mariano Marín
Kamera:
Hans Burman
Schnitt:
María Elena Sáinz de Rozas
Darsteller:
Ana Torrent (Ángela Márquez), Fele Martínez (Chema), Eduardo
Noriega (Bosco Herranz), Xabier Elorriaga (Prof. Jorge Castro), Miguel Picazo
(Prof. Figueroa), Nieves Herranz (Sena Márquez), Rosa Campillo (Yolanda),
Francisco Hernández (Ángelas Vater), Rosa Ávila Ángelas
Mutter), Olga Margallo (Vanessa Romero)
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