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The
Lost Son
Chris
Menges' nüchterner Film zum Thema Selbstjustiz
Zwei
Männer stehen sich gegenüber. Der eine hat eine Pistole, der andere
nicht. Eigentlich eine ungefährliche Situation, denn hier hält der
Held des Films, der Privatdetektiv Lombard (Daniel Auteuil), seinen kriminellen
Gegenspieler namens Friedman (Bruce Greenwood) in Schach. In dem Augenblick
jedoch, in dem der Widersacher seine Untaten bereitwillig und mit der Arroganz
eines wahren Bösewichts eingesteht, hebt der Detektiv die Waffe und exekutiert
sein Gegenüber. Auge um Auge: Friedman steht nicht mehr auf, und das ist
gut so.
Diese
Szene ist einer der dramatischen Höhepunkte in Chris Menges' The
Lost Son,
und sie ist von langer Hand vorbereitet worden. Diese Vorbereitung umfasst das
Leiden des Helden und die brutale Menschenverachtung des Bösen, den mahnenden
Opfertod von Unschuldigen und die totale Unfähigkeit des Täters zur
Reue. Friedman ist, obwohl mit seinem Tod der Fall noch längst nicht gelöst
ist, der Prototyp jenes Verbrechers, der keinen rechtmäßigen Thriller
überleben darf. Doch derart kaltblütig in Jenseits befördert
zu werden, ist heute trotz allem nicht gerade üblich. Friedmans Exekution
hat vielleicht weniger mit seinem typischen Schurkenprofil zu tun, als vielmehr
mit der Art seines Verbrechens – es geht um sexuelle Gewalt an Kindern.
„Ein
britischer Film Noir" soll es sein, „ein Thriller und kein Thesenfilm",
sind sich Regisseur Chris Menges, Hauptdarsteller Daniel Auteuil und Produzentin
Finola Dwyer einig. Die Geschichte ist dementsprechend gradlinig und beginnt
mit einem scheinbar unspektakulären Auftrag für den ehemaligen Pariser
Polizisten Lombard, der sich nach dem Mord an seiner Familie in London als Privatdetektiv
durchschlägt. Sein ehemaliger Kollege Carlos (Ciaran Hinds) vermittelt
ihm den Job, Leon, den untergetauchten Bruder von Carlos' wohlhabender Frau
Deborah (Nastassja Kinski), aufzuspüren. Gefährlich wird der lukrative
Routinefall, als Lombard feststellt, dass Leons Verschwinden mit den Machenschaften
eines Kinderporno-Rings zusammenhängt. Die Organisation um einen gewissen
Friedman handelt nicht nur mit Bildern, sondern beliefert ihre Kunden zudem
mit den Kindern ihrer Wahl – inklusive Beseitigung der Leiche für den Fall,
dass das minderjährige Objekt der Begierde die Vergewaltigung nicht überleben
sollte.
Natürlich
muss Lombard selbst in dieses unmenschliche System eindringen, um seinen Fall
zu lösen. Und bis zu dem Moment, in dem er zum ersten Mal seine Waffe gegen
die Kinderhändler zieht, hat The
Lost Son
tatsächlich etwas von einem Film Noir. Etwas von jener Tradition, in der
Humphrey Bogart als Philip Marlowe unsterblich wurde. Daniel Auteuil als der
toughe, ein wenig heruntergekommene, kettenrauchende Einzelgänger, dazu
ein Freund aus alten Tagen, ein scheinbar leichter Fall, der sich zu einem lebensgefährlichen
Komplex auswächst, und Nastassja Kinski als „die schöne, reiche, mysteriöse
Frau" machen ein Bild rund, das mehr als nur ein wenig an Geschichten wie
Raymond Chandlers „The
Big Sleep"
erinnert. Frage: „Was lief damals falsch in Paris?" – Antwort: „Alles!"
Doch
es ist nicht diese Bilderwelt, in der die spätere Exekution des Schurken
möglich wäre. Es sind nicht die Mittel des Film Noir, die uns Lombards
Kampf gegen die Kinderschänder zeigen. Stattdessen folgt The
Lost Son
nun ganz jenen filmischen Prinzipien, nach denen Charles Bronson in Hollywood
und Alain Delon im französischen Kino der achtziger Jahre ihre Selbstjustiz-Rachefeldzüge
bestritten haben. Ein Mann sieht rot: Lombard verteilt ohne Warnung Knieschüsse
und foltert einen sterbenden Helfershelfer, um das Versteck Friedmans aufzuspüren.
Ganz wie bei Delon und Bronson müssen auch hier zur moralischen Rechtfertigung
zuvor enge Freunde und/oder die Familie des Helden ins Gras beißen; und
ganz wie Delon in Der
Panther
oder Bronson in Der
Mann ohne Gnade
zeigt sich auch diesmal der erbarmungslose Rächer bei Gelegenheit trotzdem
als ein Mann mit Gefühlen. Ein Mensch wie wir.
Es
scheint, als hätte dieser Umschwung vom Film Noir zum Selbstjustiz-Thriller
ganz unmittelbar etwas mit der Thematik zu tun. Schon bei Joel Schumachers 8mm,
in dem Nicolas Cage als Detektiv in ähnliche Abgründe hinunterstieg,
musste die Geschichte in einem brutalen Rachefeldzug enden, der so ansonsten
kaum einem Kinohelden mehr ohne weiteres gestattet ist. Nur hier, da es um die
sexuelle Ausbeutung, Folter und Zerstörung von Kindern geht, darf der tradierte
Typus des unbarmherzigen Rächers wiederkehren und Gleiches mit Gleichem
vergelten.
„Manche
Fälle sind es wert, alles zu opfern.", lautet die Erkenntnis, mit
der The
Lost Son
beworben wird. Dieser Satz bezieht sich nicht nur auf den Detektiv Lombard,
der seine Routine als exilierter Kämpfer für Recht und Ordnung aufgibt,
um zurückzuschlagen. „Alles zu opfern", das heißt für The
Lost Son
auch, Bogart gegen Bronson/Delon einzutauschen, weil es das Thema verlangt.
In diesem Comeback der gerechtfertigten Selbstjustiz liegt die Antwort, die
das Kino derzeit für das Problem des zunehmenden Missbrauchs von Kindern
parat hat. Inwiefern diese atavistische Antwort in das Horn der öffentlichen
Reaktionen stößt, die in den letzten Jahren zu den erschreckenden
Vorfällen in Belgien und anderswo laut geworden sind, ist eine andere Frage.
Sie stellt sich nicht in, sondern erst nach The
Lost Son.
Jan
Distelmeyer
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
The
Lost Son
the
lost son
Großbritannien/Frankreich
1999. R: Chris Menges. B:
Margaret und Eric Leclere. P: Finola Dwyer. K: Barry Ackroyd. Sch: Pamela Power,
Luc Barnier. M: Goran Bregovic. T: Martin Trevis. A: John Beard, Ricky Eyres,
Ray Chan. Ko:
Rosie Hackett. Pg: Film consortium/Le Studio Canal Plus/Scala/Ima.
V:
Arthaus. L: 102 Min. Da: Daniel Auteuil (Xavier Lombard), Nastassja Kinski (Deborah
Spitz), Katrin Cartlidge (Emily), Ciaran Hinds (Carlos), Marianne Denicourt
(Nathalie), Bruce Greenwood (Friedman), Billie Whitelaw (Mrs. Spitz), Cyril
Shaps (Mr. Spitz).
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