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Die
Unbekannte
Echtwind
und Echtwasser
In Giuseppe Tornatores eifrig Hitchcock zitierendem Thriller "Die
Unbekannte" lässt sich viel über Schaulust und Doppelmoral lernen.
Der erste Blick dieses Films ist ein voyeuristischer:
auf halb nackte Frauen, die gemustert werden von einem Auge hinter einer Wand.
Dieses Auge ist mit im Bild, als wollte der Film signalisieren: Ich identifiziere
mich nicht mit diesem voyeuristischen Blick, ich analysiere ihn. Darin liegt
eine Komplikation, aber auch eine Scheinheiligkeit. Denn der Film mustert diese
Frauen mit einem Blick, der sich von dem des Voyeurs kaum unterscheidet, er
mustert vor allem die eine, Irena (Kseniya Rappoport), die sich dann vollständig
entkleidet, er wählt sie zur Hauptfigur der Geschichte, die er dann, als
ihre Geschichte, erzählt - ohne, allen Sympathiebehauptungen zum Trotz,
je seinen quasi-voyeuristischen Blick von ihr zu wenden.
Sie ist Ukrainerin, sie wurde jahrelang
von einem italienischen Prügler, Vergewaltiger und Mädchenhändler
(Michele Placido) gefangen gehalten und aufs Übelste misshandelt. Das erzählt
der Film aber nicht einfach so, sondern Giuseppe Tornatore macht einen Thriller
daraus, der sich und dem Betrachter diese Vorgeschichte in Flashback-Szenen
nach und nach erst erschließt. Als das Geheimnnis, das die Figur zu mysteriösem
Verhalten in der Gegenwart treibt, werden diese Bilder, in denen man Irena immer
nur schreien, sich winden, geprügelt und missbraucht werden sieht, zum
Gegenstand unseres Begehrens: Was ist geschehen? Welches Ereignis begründet
ihr Handeln?
In der Gegenwart schleicht Irena sich
als Haushälterin ein in eine bestens situierte Kleinfamilie: Vater, Mutter,
Kind. Nicht auf Geld, wie man zunächst denkt, sondern auf das Kind, Tea
(Clara Dossena), hat Irena es abgesehen. Es ist schwach, es holt sich immerzu
Beulen, weil es sich nicht abfangen kann, wenn es fällt. Irena trainiert
mit ihm, erwirbt sich Teas Vertrauen, argwöhnisch beobachtet von der Mutter.
Dann aber wird Irena von ihrer Vergangenheit eingeholt und muss am Ende erleben,
dass alles, was sie die ganze Zeit tat, auf falschen Voraussetzungen beruhte.
"Die Unbekannte" ist ein moralisch
hochproblematischer und darum, so unsympathisch er ist, als Untersuchungsobjekt
ein faszinierender Film. Die von Tornatore in die Verdeckung seines Voyeurismus
gesteckte Energie ist beinahe so exzessiv wie die Gewalt, die nicht nicht zu
zeigen ihm unübersehbar gefällt. Der Film lebt die Lust an der Misshandlung,
ohne sich das natürlich einzugestehen, immer wieder aus - nicht zuletzt
in einer brutalen Prügelszene. Er behandelt sein Material mit Messers Schneide,
unterstützt auch durch einen Soundtrack von Ennio Morricone, der wie Tornatores
Regie selbst an Überdeutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.
Anders als es Moralisten wie Michael Haneke oder Ulrich Seidl tun, gewährt
er dem Zuschauer aber nie eine halbwegs gesicherte ethische und emotionale Distanz.
In seinen - oft gelungenen - Spannungseffekten und der - oft überzeugenden
- manierierten Mise-en-Scene bewegt er sich vielmehr stets in der Nähe
zu den Gialli-Reißern der Siebziger Jahre und ihrer ausgestellten Lust
an der verbotenen Lust.
Allerdings hütet er sich, im Gegensatz
zu diesen, diese Lust wirklich auszustellen. Hinterrücks holt er sich die
Erlaubnis, zu zeigen, was er zeigt, über die Dignität seines behaupteten
Anliegens. Diese eiskalte Doppelmoral - Lust am Effekt, vorgeschützter
moralischer Impetus - reflektiert er (anders als etwa Hitchcock oder auf seine
Weise Brian De Palma) nicht, aber er führt sie vor. Und er macht sie, was
noch einmal etwas anderes ist, für den Zuschauer am eigenen Körper
spürbar: Man möchte, in derselben Bewegung und Regung, hin- und wegsehen
zugleich. Man ist gepackt und angewidert, man empfindet eine Lust des Zusehens,
von der man weiß, dass sie sich nicht gehört.
Verwerflich aber ist das Genießen
der verbotenen Schaulust nicht so sehr - und
anders als die offizielle Kinomoral sich das denkt - in den ganz ungeschützten
und handwerklich ihre Mittel stets vorzeigenden Gialli der siebziger Jahre.
Wirklich unangenehm, weil verlogen, wird es erst in Werken wie "Die Unbekannte",
wenn ein Könner wie Tornatore in den Schaulust-Apparat des Kinos zum Schein
einen sicheren Boden einzieht, als gute Absicht, die die krassen Mittel dann
heiligt. In Italien haben ihm die zuständigen Stellen das abgenommen: Sein
Film wurde mit Preisen überschüttet, er wurde als italienischer Beitrag
für den Auslands-Oscar eingereicht (und kam unter die letzten neun). Ein
spannender Gegenstand für symptomatische Lektüren psychosozialer Verhältnisse.
Ekkehard Knörer
Dieser
Text ist zuerst erschienen am 21.05.2008. in www.perlentaucher.de
Die
Unbekannte.
Italien 2006 - Originaltitel: La sconosciuta - Regie: Giuseppe Tornatore
- Darsteller: Xenia Rappoport, Michele Placido, Claudia Gerini, Margherita Buy,
Pierfrancesco Favino, Piera Degli
Esposti, Clara Dossena - FSK: ab 16 - Länge:
121 min. - Start: 22.5.2008
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