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Underground
and Emigrants
Der Film erläutert sogleich
die Absicht, dem sterilen deutschen Kulturbetrieb eine Alternative aufzuweisen.
Diese ist das New York des Underground, der off-off-theatres und derjenigen
deutschen Emigranten, die dort ihren Platz eingenommen haben. Praunheim spürt
den vielen Stars der Subkultur nach. Mit Charme und Geschick weiß er sie
in seinem Hotelzimmer zu versammeln: als Gäste zu seinem 33. Geburtstag.
Wehmütig verabschiedet er sich von New York, doch er ist voll Tatendrang:
in Deutschland gilt es das (kulturelle) System zu verändern.
Praunheim verliest im off ein
Manifest: »Ich bin nach New York gefahren aus Wut auf den sterilen deutschen
Kulturbetrieb, der akademisch, steif und unvital ist. Beamtetes Theater ohne
Risiko. Die Schauspieler ohne Persönlichkeit und Identität, mit einer
falschen Ausbildung und voller Angst, privat zu sein. - Marionetten verklemmter
Theoretiker. - Freie Gruppen gibt es kaum. Das todsubventionierte Kultursystem
und der mittelständisch behäbige Status der Deutschen verhindern es,
und es ist kein Ende abzusehen. Wir fühlen uns wohl, wir nehmen es hin
und rechtfertigen diese beschissene Situation, denn die, die auf dem subventionierten
Thron sitzen, haben kein Interesse, es zu ändern. Sie sind unfähig,
arrogant und spießig,
ohne Fantasie, unerotisch und unendlich feige. In New York sind die Theater
finanziell schlechter dran. Viele Schauspieler müssen auf den Strich gehen
oder mit Drogen handeln, aber sie lieben ihren Beruf, sie können, ohne
kreativ zu sein, nicht leben. Unter dem Druck der großen kommerziellen
Broadwaytheater ... ist Anfang der 60er Jahre eine Gegenbewegung entstanden:
das off-off-Broadway-theatre, ein armes Theater in Kellern, Fabriken, Kneipen
und auf der Straße. Ein verrücktes, poetisches, expressives, sinnliches
Theater voller Glamour, Vitalität und Spaß. ... Die meisten Theaterleute
sind schwul, Schwule, die durch ihre Unterdrükkung mehr als andere an Sensibilität
und Phantasie entwickelt haben, die der Kunst in allen Sparten zugute kommt,
und Schwule, die Glitzer, Transvestiten und alte Showstars lieben.«
Der Film präsentiert als
erste legendäre Figur Greta Keller. Praunheim kommentiert: »Sie hatte
Halsschmerzen. Ihr junger Freund die Grippe. Wir wurden Freunde. Ich wurde krank.«
Dann wird der Film euphorisch. Eine wilde Schnittfolge reagiert auf das Bild
»We Turn Manhattan in a Night of Joy«. Kontrastbilder führen
Stadtstreicher vor und The Toilet, die wildeste Pornobar in New York. Auch dort
wird off off geprobt. Der Regisseur treibt einen Nackten, der ein Manuskript
in den Händen hält, mit den Zurufen »fucker, killer« zu
Höchstleistungen an. In einer Fabrik an der Bowery wohnt W. S. Burroughs,
»der größte Dichter Amerikas.« »Ich durfte ihn
fotografieren.« Ernst schaut er in die Kamera, doch bleibt er stumm.
Im puertoricanischen Poets Cafe
tritt Praunheim mit dem Mikrofon in der Hand als Reporter auf. Er wird von Lloyd
Williams gefilmt. Fred Newman beruft sich auf Stanislawski, Grotowski und Brecht.
Die Kamera zeigt derweil in Großaufnahme seinen Fuß. Er trägt
Sandalen. - John Vaccaro inszeniert ein Tarzanmusical mit Tony Carol, dem Bodybuilder
Mr. World (»King of the YMCA«), welcher anschließend auf dem
Hochhausdach von Praunheim interviewt wird. Die Antworten sind schwer verständlich,
doch kommt Praunheims Englisch voll rüber: »O.k., I wish you good
luck for the show.« Höhepunkt des Films ist der 25. November 1975. Praunheim
feiert seinen 33. Geburtstag. Im Chelsea Hotel. Der Ansturm und Glamour der
Gäste sind umwerfend. Die Kamera, home movie, filmt jeden, der ins Zimmer
tritt, und der Ton nennt Namen, die jeder Insider kennt: die Luetze aus Berlin
und Gabi Larifari. Aber das ist doch die große Tally Brown. Und Taylor
Mead, die Supertunte? Der Filmmacher ist im Herzen der Millionenstadt. Ecke
2nd Avenue/11th St., The Tavern: Jackie Curtis singt ihr schönstes Lied,
und Transistar Holly Woodlawn bringt ihre große Vergangenheit (Warhols
Trash) in einer eigenen
Show unter.
Der Film ändert abrupt das
Klima. Praunheim wechselt das Sujet und filmt Alice Carey, Chefreporterin einer
TV-Station, die auf der Lafayette Street vor den Fassaden des Astor Place Theatre
und Joseph Papp's Public Theatre im bekannten pausenlosen Stil die Geschichte
der off-off-Theatres referiert. Da der schnelle Text, der unübersetzt bleibt,
schwer aufzunehmen ist, wandert des Zuschauers Blick - und das ist jetzt die
UNDERGROUND AND EMIGRANTS-Kamera, die offenbar auch Verständnisschwierigkeiten
hat - die Fassaden rauf und runter. Blende, Schärfe, überhaupt die
Optik ist fehlerhaft. Es bleibt ungewiß, ob das Vorsatz oder Fahrlässigkeit
ist.
Auf deutsch erfahren wir dann,
daß Ellen Stewarts (La Mamma) Erfolg auf »viel Liebe, Freude und
harte Arbeit« zurückzuführen ist. Aufs Wort kommt es aber nicht
an. Fernando Arrabal kommt ins Bild; »ich verstand kein Wort«, gesteht
Rosa von Praunheim und fährt fort: »Ich verliebte mich sofort in
ihn und saß zu seinen Füßen.« Der Ton des Interviews
mit Grete Mosheim ist merkwürdigerweise nicht zu hören. Die Kamera
notiert einen Probenbesuch im Theater Robert Wilsons sowie einen Gang in die
Al Carmino-Kirche, eine Visite bei Stephen Holt, an dessen Stücken, wie
gesagt wird, das Schauspielhaus Bochum interessiert ist. Auf einer Straße
zieht Stuart Sherman einen Schuh aus und an und aus und an und aus. Sogar das
»Theater als Mittel zur Resozialisation und als soziale Anklage«
ist durch The Family vertreten, aber auch durch Danny Partridge aus San Francisco,
der hier in New York, das erfahren wir an dieser Stelle auch, ohne jede Foundation-Mittel
auskommen muß.
Doch grade wenn das Geld knapp
ist, wird New York kreativ. Schon singt ein Glatzkopf mit langen schwarzen Strümpfen
sein »Come back to me, I will make you happy«. Das ist Paul Venase.
Und dann erscheint Untergrundveteran Jack Smith (Flaming Creatures), »ein Verrückter in seinem Appartement«; »er
lebt in grausamer Armut« und führt der UNDERGROUND AND EMIGRANTS-Kamera
ein praktisches Performance/Ritual vor: vorm geladenen Publikum vergipst er
seine Zimmerdecke, da, wo die eisernen aber nässenden Abflußröhren
durchstoßen (Plaster
in Paradise).
Nachdem sich Divine (Pink Flamingo) verbeugt hat, erscheint Lil
Picard in Praunheims Panoptikum. Es wird zunächst mitgeteilt, daß
sie für Die
Welt und
Das Kunstwerk
schrieb
und Ende der 50er Jahre Warhol entdeckte. Dieser erscheint auf einer Party.
»Er macht jetzt Society« (Picard), weil er aus schäbigen Verhältnissen
kam (Vater Arbeiter, Pole) und diesen entrinnen will (Mutter senil, Tschechin,
lebt bei Andy). Dieser Analyse folgt Schlußbild und Krönung des Films:
Rosa von Praunheim. Durch ihn ging alles hindurch, er repräsentiert die
Szene New Yorks. Das Bild zeigt ihn dem Spiegel gegenüber. Zu sentimentaler
Westernmusik überblendet sich sein Kopf, und er spricht die letzten Worte:
»Ich verlasse New York in Wehmut und Trauer.« Was bleibt, ist die
Hoffnung, »bei sich im eigenen Land etwas produktiv zu verändern«.
Ernst und Spiel, Botschaft und Farce sind in der Schlußsequenz unheilbar
vermischt. Der Film selbst ist die erstrebte »Alternative zum langweiligen
deutschen Kulturbetrieb«, welchletzterer eben diesen Film ermöglichte
(finanziert mit 30 000 Mark vom SFB und 20 000 vom Deutschen Akademischen Austauschdienst).
Dem Kunstgenuß entzieht sich der Film. Er hat »Kratzer, dicke Laufschrammen,
starke Über-und Unterbelichtungen, Lichteinfälle. Er ist sehr oft
asynchron und ich bin stolz darauf.«
Mit der 16 mm-Beaulieu-Kamera
und einem winzigen Sony-Kassettengerät zog Rosa von Praunheim begeistert
durch die new yorker Szene oder doch auf ihren Spuren und vermittelte vor allem
den Elan der off-off-Bewegung der sechziger Jahre. Auf die Emigranten kommt
er nur zu sprechen, wenn sie zur Bewegung gehören. Er hatte schon viele
Szenen gedreht, bevor er mit den Geldgebern einig wurde. Geplant war anfangs
ein autobiografischer Film über das Thema Homosexualität und Kulturbetrieb.
Das Material entstand im entsprechenden Kommunikationsbereich Party, Straße,
schwule Subkultur (Orgienbars und Saunas) und vor dem Spiegel, der ihn selbst
zeigt. Die Hektik der Aufnahmen ist begründet, die Zeit des Undergrounds
war damals, 1975/76, schon vorbei. Es galt, die Spuren zu sichern. Auch für
diese Arbeit ist der Film ein Dokument.
In den USA wurde besonders die
Alice Carey-Sequenz, in der die lediglich verbal mitgeteilten Erfolge von Papps
Public Theatre zu höchst mangelhafter Filmtechnik kontrastieren, als »freakishly
funny« bejubelt. Daryl Chin hält es für unmöglich herauszufinden,
ob dieser Kontrast beabsichtigt ist oder nicht. Sie sieht darin den Punkt des
Films, denn die Frage werde angesichts des »moral fervor« irrelevant.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Rosa von Praunheim; Band 30 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1984, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags
UNDERGROUND
AND EMIGRANTS
BRD
1975/76
Regie,
Drehbuch: Rosa von Praunheim. - Kamera: Edvard Lieber, Lloyd Williams, Scott
Sorenson, Rosa von Praunheim. - Schnitt, Ton: Edvard Lieber, Rosa von Praunheim.
- Assistenz: Alice Carey. - Darsteller: Rosa von Praunheim, Greta Keller, William
S. Burroughs, Fred Newman, Lee Breuer, Charles Ludlam, John Vaccaro, Tony Carol
(»Mr. World«), Holly Woodlawn, Alice Carey, Ellen Stewart, Fernando
Arrabal, Grete Mosheim, Robert Wilson, Al Carminer, Stephen Holt, Stuart Sherman,
Shusaku Arakawa, Yvonne Rainer, Lawrence Weiner, The Family, Danny Partridge,
Paul Venase, Jack Smith, Tom Eyen, Divine, Lil Picard, Andy Warhol, u. a. -
Sprecher: Rosa von Praunheim. - Produzent: Rosa von Praunheim im Auftrag des
SFB, des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und der Berliner Festwochen.
- Redaktion: Jürgen Tomm. - Drehzeit: Oktober 1975 - Juni 1976. - Drehort:
New York. – Produktions-Kosten: 50 000 DM. - Format: 16 mm, Farbe (Kodak). –
Original-Länge: 89 min. - TV: 25.10. 1976 (NDR III/RB III/ SFB III). -
Verleih: Atlas (16 mm).
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