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Uneasy
Rider
Große
Airbags
"Uneasy
Rider" will ganz nah an die wichtigen Dinge des Lebens heran
Was
mache ich hier eigentlich, als Zuschauer, und was geht es mich an, was diese
Leute da treiben? Auf der anderen Seite und doch mitten unter ihnen als teilnehmender
Beobachter bin ich dazu verdammt, ihnen zuzusehen und zuzuhören. Eingedrungen
in den geschlossenen Raum von Familie, Liebe oder Freundschaft. Intimität
wird hergestellt und zugleich gebrochen - ich bin an beidem schuld und muss
mich dazu verhalten, meine Position neu überdenken und vorsichtig meinen
Platz in der Geschichte suchen. Vielleicht hatte der Erfolg der ersten Dogma
95-Filme Das
Fest
und Idioten
gerade mit solchen Gefühlen von Nähe, Überforderung und Faszination
zu tun. Wir kennen das aus unseren eigenen Familien: Teil davon sein, irgendwie
zu Hause, dann wieder fremd und gleichzeitig zu nah dran, um einen "klaren
Kopf" zu bekommen. Das kommt später; nach dem Familientreffen, beziehungsweise
nach dem Kino.
Spätestens
Mifune
(Dogma 3) lieferte aber den Beweis, dass diese Qualität, das Nahegehen,
sich keineswegs automatisch mit der wackelnden Handkamera und der Beschränkung
auf vorhandene Ton- und Lichtquellen einstellt. Der Film erzählte auch
davon, wie wenig die gerühmte Dogma-Ästhetik vor Klischees, Stereotypen
und Langeweile gefeit ist. Wenn nun in Uneasy
Rider
eine bewegliche Digital-Videokamera ihre Authentizitätsbahnen durch die
Flure und Zimmer eines Heims für körperlich Behinderte zieht, um uns
am Ende als Gutmenschen aus Heim und Kino zu entlassen, dann ist das weniger
eine Überraschung als eine der vorhersehbaren Konsequenzen des vergangenen
Dogma-Hypes.
Für
den französischen Regisseur und Drehbuchautor Jean-Pierre Sinapi ist sein
Film "ein menschliches Abenteuer". Dieses spielt im Reich der Rollstuhlfahrer.
Je auffälliger die Eigenarten der Heimbewohner, desto größer
ihre Rolle: Da sind zum Beispiel Rabbah, ein muskelkranker, schwuler Johnny-Hallyday-Fan
und Moslem, der zum Katholizismus konvertieren will, und Jean-Louis, der als
spastisch gelähmter Punk in seinem Rennrollstuhl immer wieder zur nahen
Route Nationale 7 aufbricht. Der Auffälligste von allen ist jedoch der
renitente René (Olivier Gourmet), und so erzählt Uneasy
Rider
dann auch vor allem seine Geschichte.
Ein
intellektueller Marxist in einem mit nackten Frauenbildern gepflasterten Zimmer;
ein tyrannischer, an seiner Muskelerkrankung verzweifelnder Zyniker, der sich
als Pornofan und Provokateur gibt: "Kopf und Möse passen nicht zusammen."
So widersprüchlich René am Anfang erscheinen soll, so wenig scheint
ihm die gutherzige junge Pflegerin Julie auf den ersten Blick gewachsen. Weil
sich in Uneasy
Rider
aber alle Widersprüche baldmöglichst in eindeutige Verständlichkeit
zu verwandeln haben, dauert die angelegte Verwirrung nicht lange.
Das
geht so: Nachdem Julie dem pöbelnden René erst einmal Paroli geboten
hat ("Halt's Maul, du Drecksack!"), kann er auch umgehend von seiner
Bösartigkeit geheilt werden. René braucht einfach Sex, eine Prostituierte
mit "großen Airbags und straffen Schenkeln". Gegen alle bürokratischen
Widerstände findet die heilige Julie die gute Hure Florèle, der
Rollstuhl passt in den Wohnwagen, und nach der sexuellen Befreiung wird René
der andere Mensch, der er sein soll: gut gelaunt und einfühlsam. Playmates
und Pornos werden stehenden Fußes dem Müll überantwortet.
Wenig
später findet auch die liebe Julie ihren Herzbuben. Natürlich ist
es nicht der arrogant flirtende Psychologe, sondern der freundlich schüchterne
Hausmeister. Nebenbei gelingt zudem eine kleine Revolution der lebensfrohen
Behinderten gegen den verknöcherten Heimleiter. Es siegt "das Gute",
auf dessen Seite wir immer schon stehen, zumindest in dieser kleinen Welt, in
der Frauen noch aufopferungsvolle Schwestern sind und Behinderte (dem Rainman-Muster
folgend) die Wegweiser zu den "wichtigen Dingen" des Lebens. So führt
uns die Handkamera in Uneasy
Rider
auf eine andere Seite der Nähe: Hier dient sie nicht mehr, wie in Das
Fest
oder Idioten, zur Überprüfung der eigenen Position, sondern klebt
den Zuschauer zusammen mit den bekannten Abziehbildern der männlichen Gutmenschengemeinschaft.
Alles wird "gut", weil alles im Rahmen bleibt.
Jan
Distelmeyer
Diese
Kritik ist zuerst erschienen in: Die Zeit
Uneasy
Rider
Frankreich
1999 - Originaltitel: Nationale 7 - Regie: Jean-Pierre Sinapi - Darsteller:
Nadia Kaci, Olivier Gourmet, Nadine Marcovici, Gérald Thomassin, Saïd
Taghmaoui, Chantal Neuwirth, Lionel Abelanski, Julien Boisselier - Länge:
90 min. - Start: 29.3.2001
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