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Die
Unerzogenen
Merkwürdig aus der Zeit gefallen,
wie Strandgut, wirkt dieser Film, dessen Farbpalette den Eindruck erweckt, der
Film habe seinen ersten Kinoeinsatz bereits vor mehr als 30 Jahren gehabt. Es
sind Sommerbilder, allerdings mit grünen und braunen Einschüssen,
die nicht von ungefähr an die Filme der Münchener Sensibilisten wie
Matthias Weiss oder Gerhard Theuring erinnern. Diese Ästhetik passt ausgezeichnet
zum Lebensstil der Protagonisten von „Die Unerzogenen“, der auch direkt aus
der Zeit nach der antiautoritären Revolte der späten 1960er-Jahre
zu stammen scheint, als Drogen, freie Liebe und Hippies die bundesdeutsche Provinz
infiltrierten.
Die Geschichte ist bekannt: „Ich
will nicht werden, was mein Alter ist!“, sangen bereits vor mehr als einem Vierteljahrhundert
Ton Steine Scherben. Damals galt als ausgemacht, wie das gemeint sein musste.
Die Alten, das waren Spießer oder Faschos, die ihr Leben über Arbeit
und materiellen Wohlstand definierten, während „die Jugend“ den antiautoritären
Aufbruch probte. In Pia Marais Debütfilm sieht die Sache nun etwas komplizierter
aus – hier sieht man, was aus umherschweifenden Hasch-Rebellen werden kann und
wie es sich mit ihnen so lebt, wenn man ein Kind ist. Die Eltern der jungen
Stevie sind noch immer nomadisierende Hippies, die in einer Clique mal ein paar
Monate in Portugal, dann wieder einige Zeit in Deutschland leben. Ihr Lebensmotto
könnte von Bob Dylan stammen und zeigt, welche tragikomischen Implikationen
der Vorstellung des „Forever Young“ innewohnen. „Die Unerzogenen“ hat Momente
großer Komik und tiefer Verzweiflung. Vater Axel (Birol Ünel ist
hier endlich einmal wieder vorzüglich „typegecastet“) ist Kleindealer und
nach 15 Monaten Knast gerade wieder draußen. Mutter Lily ist eine sich
immer am Rande der Hysterie bewegende Alkoholikerin. Die Kleinfamilie bräuchte
etwas gemeinsame Zeit für sich, aber dafür gibt es keinen privaten
Raum, zumal die Beziehung zwischen Axel und Lily auch fortwährend neu erarbeitet
sein will. Die 14-jährige Stevie (eine Entdeckung: Ceci Chuh) ist von dieser
Überdosis Freiheit angeödet, sie schaut dem Treiben der Erwachsenen,
ihren angejahrten Sprüchen und Posen, zunehmend angewidert zu und hätte
gerne ein paar Regeln beim eigenen Heranwachsen. Vor ihren neuen Klassenkameraden
fantasiert sich Stevie zur Diplomatentochter und hat alle Hände voll zu
tun, diesen Schein zu wahren, zumal immer mehr alte Freunde der Eltern eintrudeln
und ihr Zuhause in eine Kommune verwandeln. Dazu gehören auch Typen wie
der völlig verunsicherte Ingmar, der so gern ein harter Bursche wäre
und zwischen dem und Stevie eine untergründig erotische Beziehung entsteht,
in der allerdings Stevie weitaus tougher erscheint.
„Die Unerzogenen“ erzählt
in einer Atmosphäre lässigen Dahindämmerns von der kindlichen
Sehnsucht nach Normalität, ohne deshalb gleich den hedonistischen Lifestyle
der Eltern zu denunzieren. Stevie hätte es nur gerne ein wenig „spießiger“:
Sie könnte sich vorstellen, länger als nur ein paar Monate an einem
Ort zu verbringen, weil sie dann auch Freunde hätte. Sie könnte sich
auch vorstellen, dass ihr Vater sich eine Arbeit sucht oder dass die Familie
sich einmal ernsthaft miteinander auseinander setzt. Und wenn man das Treiben
der in der Tat anstrengenden Erwachsenen verfolgt, dann kann man Stevie sehr
gut verstehen. In gewisser Hinsicht ähnelt ihre Rolle derjenigen von Julia
Hummer in Christian Petzolds „Die innere Sicherheit“ (fd 34 691): Die Rollen von Kindern und Erwachsenen scheinen
in Marais’ Film geradezu vertauscht, weshalb der Filmtitel merkwürdig irritierend
irrlichtert. Stevies Eltern laborieren immer noch daran, sämtliche Werte
zu hinterfragen und zu überwinden, scheitern dabei aber immer wieder und
sind überfordert, während Stevie sich gewissermaßen selbst „erfinden“
muss. Andererseits: Bevor sich Stevie abnabelt und ihres Weges geht, erlebt
sie noch, dass ihre Klassenkameraden, die ganz andere Eltern gewohnt sind, Axel,
Lily und die anderen eigentlich als ziemlich „cool“ und „abgefahren“ erleben.
So sind die Dinge im Fluss, und die herrschende Ungleichzeitigkeit, Unsicherheit
und Unentschiedenheit, die Verzweiflung und die Momente großer Freiheit
sind mit Händen zu greifen.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst
Die
Unerzogenen
Deutschland
2007 - Regie: Pia Marais - Darsteller: Céci Chuh, Birol Ünel, Pascale
Schiller, Georg Friedrich, Joana Preiss, Joseph Malerba, David Könen, Johanna
Gastdorf, Dieudonné Kabonga, Madlene Niesyt - FSK: ab 12 - Länge:
93 min. - Start: 27.12.2007
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