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Unter dem Sand
Schönes, stilles Psychodrama von Francois Ozon, mit einer grandiosen
Charlotte Rampling in der Hauptrolle: Eine 50jährige muss mit dem
unerklärlichen Verschwinden ihres Mannes fertig werden.
Inhalt
Das Ehepaar Marie (Charlotte Rampling) und Jean (Bruno Cremer) verbringt
wie jedes Jahr den Urlaub an der Atlantikküste. Während Marie ein
Nickerchen am Strand macht, will Jean schwimmen gehen: Als sie wieder
erwacht, ist ihr Mann verschwunden. Die eilig herbeigerufene Polizei kann
keine Spuren von Jean entdecken: Ist er ertrunken, hat er Selbstmord
begangen oder ist er einfach verschwunden, um eine neue Existenz zu
beginnen? Nach Paris zurückgekehrt, wird Marie diese Fragen nicht mehr
los. Während sie versucht, unter anderem durch eine Affäre mit Vincent
(Jacques Nolot), ein neues Leben zu beginnen, kann sie die Erinnerung an
25 gemeinsame Jahre nicht abschütteln. Immer wieder erscheint ihr Jean:
Ein Wahngebilde oder ein Versuch des Unterbewussten, mit dem tragischen
Verlust fertig zu werden? Maries Leben gleicht zunehmend einem
Übergangsstadium von Traum und Realität.
Kritik
Eine der wesentlichen Eigenschaften eines Films von Francois Ozon scheint zu sein, dass er nicht wie ein Film von Francois Ozon wirkt. Das
hat schon sein Gutes: Nach seinem Langfilmdebüt Sitcom, einer
angestrengten Trash-Farce in John Waters -Territorium, die aber nur
Verachtung für ihre Figuren kannte, hatte ich ihn eigentlich schon als
Scharlatan abgeschrieben. Doch als ich, mehr aus Neugier über den Stoff,
seine Fassbinder -Adaption "Tropfen auf heiße Steine" sah, musste ich
mein Urteil revidieren: Ozons krasse Mischung von bewusst gesetzten
Camp-Elementen, clever kalkulierten Verstörungsstrategien und
misantropher Weltsicht blieb hier nicht bloß provokative Spekulation,
sondern tastete sich an eine Traurigkeit in den Figuren heran, die durch
ihre Vergeblichkeit umso nachhaltiger wirkte. Mit Unter dem Sand, seiner
bisher reifsten Leistung als Regisseur, verzichtet er auf die formalen
Spielereien seiner früheren Arbeit, um eine aufs erschütternde Detail
konzentrierte, klassizistische Studie über Trauer vorzulegen. Wie beim
Vorgänger, der dann näher an Rudolf Thome als an Fassbinder war, spielt
auch hier die Variation von Genre-Erwartungen eine große Rolle (Unter dem
Sand kokettiert mit Psychokrimi und Geistergeschichte, ohne sich – das
ist eine seiner größten Stärken – je festlegen zu lassen). Auch wenn mir
das Endresultat nicht ganz so geglückt wie Tropfen auf heiße Steine
erscheint (die respektvolle Konzentration auf die Hauptfigur erlaubt
Charlotte Rampling eine absolut großartige Leistung in der Hauptrolle,
lässt aber die anfängliche Dichte des Films ein wenig in gewollter
Zweideutigkeit verpuffen), festigt Ozon hiermit seinen Ruf als
unberechenbares, faszinierendes Jungtalent (seine nächsten beiden Filme
sollen wieder in völlig gegensätzliche Richtungen gehen). Unter dem Sand
bietet nicht nur 95 Minuten atmosphärisch packende Verunsicherung, er hat
mich dermaßen von Ozons Fähigkeiten überzeugt, dass ich gerade versuche,
seinen zweiten Film Les amants criminels, eine surreale Hänsel &
Gretel-Variante aus dem Videostapel daheim zu suchen.
Unter dem Sand beginnt am Wasser, das sich leitmotivisch durch den
Film zieht, die ewige Wandlung der Protagonistin sinnbildlich begleitend.
Am Hafen, Notre Dame im Hintergrund, bricht Marie mit ihrem Mann Jean zur
jährlichen Urlaubsreise auf. Ozon inszeniert, scheinbar unspektakulär,
aber mit höchster Präzision, alltägliche Handgriffe, kleine
Selbstverständlichkeiten, die das nun schon 25 Jahre währende Band
zwischen dem Ehepaar glaubwürdig charakterisieren und sofort erfahrbar
machen. (Diese unaufdringliche Nähe zwischen den Akteuren Rampling und
Bruno Cremer, sowie später zwischen Rampling und Jacques Nolot und vor
allem – am unmerklichsten – zwischen Rampling und der Kamera verleihen
dem Film seine Resonanz und den faszinierend intimen Tonfall.) Jean lässt
sich einen Kaffee aus dem Automaten einer Autobahnraststätte, Marie zieht
sich auf dem Klo den Lippenstift nach, als sie herauskommt nimmt sie
selbstverständlich einen Zug an seiner Zigarette: Ohne Worte ist ein
Vierteljahrhundert Nähe versinnbildlicht.
Mit der Ankunft am Badeort schiebt sich das Unwirkliche über die betont
alltägliche Atmosphäre: Beim Eincremen des Rückens seiner Frau wirkt
Jeans Blick schon gedankenschwer, als ginge er in die Fremde, auf den
Horizont der Wellen zu, gleich darauf wird er (dorthin?) verschwinden.
Als Marie erwacht und ihren Mann nicht mehr findet, wird die
Desorientierung mit einem ersten, eleganten Halbkreiskameramanöver
eingeläutet, das die bisherigen statischen Einstellungen ablöst: Die
Suche hat begonnen.
Bei den folgenden, behutsam eskalierenden Szenen, steigert Ozon diese
Taktik: Zuerst fragt Marie das einzige Paar am Strand (das, in einen an
den früheren, aufrührerischen Ozon erinnernden Verblüffungseinlage, in
recht unpassendem Gegensatz zur Situation, nackt an den Gestaden
lustwandelt), die Polizeisuche bleibt im großteils im Off, ein erstes
Abendessen nach Maries Rückkehr nach Paris macht die völlige Trennung
zwischen ihr, der verunsichert Trauernden, und ihren Freunden klar. Marie
wird, als sie ins zu Private vorstößt, abrupt mit einer
Höflichkeitsfloskel („Noch Salat?”) das Wort abgeschnitten: Das Ausmaß
ihres Schmerzes trennt sie von ihren Bekannten. Diese Verstörung steigert
Ozon schrittweise bis ins Surreale: In mehreren Szenen wähnt sich Marie
von Jean besucht (der Eintritt ist zumeist noch leicht geisterhaft, dann
macht sich verunsichernd realistische Atmosphäre breit), verstreute
Hinweise über Jeans Vergangenheit und Maries finanzielle Lage scheinen
mehrere mögliche Krimiplots anzudeuten, deren wahrscheinlichster in die
Geschichte einer Selbsttäuschung Maries deutet: Unfähig mit Jeans Verlust
umzugehen, weist sie Bemerkungen über seinen Tod mit so regelmäßiger
Entschiedenheit zurück, wie sie von ihm besucht wird. Gerade weil die
Inszenierung dabei das nicht Außergewöhnliche betont, werden die Szenen
außergewöhnlich: Während Marie möglicherweise auf Unzurechnungsfähigkeit
hinsteuert, wird die Erzählung (außerhalb ihrer Phantasien) immer
nüchterner, klarer. Dieser Zwiespalt füllt Unter dem Sand mit
ansteigender innerer Spannung.
Diese Spannung verdankt sich vor allem dem Schauspiel: Bruno Cremer etwa
hat nur eine kleine Rolle (nach 15 Minuten ist seine Figur verschwunden),
doch seine bullige Präsenz und die anfangs klar spürbare Innigkeit
zwischen ihm und Rampling lassen ihn ständig präsent erscheinen. Das muss
auch sein möglicher Nachfolger Vincent (Jacques Nolot nimmt sich, sehr
zum Vorteil des Films, bewundernswert zurück, um Rampling mehr Raum zum
Ausspielen der Nuancen zu geben) erfahren – zum Beispiel, wenn Marie
mitten im Geschlechtsverkehr einen Lachkrampf bekommt. Der, so stellt
sich heraus, verdankt sich der Tatsache, dass er viel leichter als Bruno
ist. Es ist eine Szene, die mit ihren mehrfachen, unerwarteten Übergängen
(Erotik/Verwirrung/Komik/Lächerlichkeit/Überraschung), die trotzdem alle
nachvollziehbar bleiben, die ganzen Stärken des Films enthält: Ozon,
selbst aus der Schwulenszene, weist darauf hin, dass sich das auch seiner
Co-Autorin Emmanuèle Bernheim verdankt, die in solche Szenen eine
eindeutig „weibliche Perspektive” eingebracht habe. Das gilt für den
Großteil des Films, aber in einigen Momenten kommt bei solchen Übergängen
noch etwas von Ozons Interesse am Rollenspiel der Geschlechter und
plakativen sexuellen Konstellationen durch. Einmal phantasiert Marie, im
aufreizenden, neuen, roten Kleid, masturbierend vom vermissten Mann wie
auch vom Liebhaber berührt zu werden: die Hände treffen sich in der
Mitte. Ein andermal scheint es furchtbar signifikant, dass sich Marie
eine Krawatte kauft, Maskulinität signalisierend. Das Bild wird sofort
zweimal umgeleitet: Zuerst zum Krimi, als Maries Kreditkarte sich als
ungültig erweist, später, nach der Heimkehr, in Richtung
Geistergeschichte, als sie die Krawatte Jean schenkt, der sie dort
„erwartet”: Die originale Bedeutung wird dabei völlig ausgelöscht.
Vor allem ist das aber Charlotte Ramplings Film, die ähnlich
vielschichtig Seiten an sich selbst entdeckt („als wäre es das erste
Mal”, wie Jonathan Rosenbaum es schön auf den Punkt gebracht hat). Von
den anderen bemerkenswerten Filmen, die derzeit reifen, unkonventionell
schönen Frauen komplexe, interessante Aufgaben geben (Isabelle Huppert in
"Die Klavierspielerin", Tilda Swinton in "The Deep End ", beides - wie
Ozons Film - Arbeiten über Schuld, Verdrängung und unmögliche Liebe) ist
Unter dem Sand eindeutig der zärtlichste (und der mit der ältesten
Heldin: Rampling ist stolze 56, 10 respektive 15 Jahre älter als ihre
beiden Kolleginnen). Rampling, glühend mit Lebenslust, Attraktivität und
Intelligenz, macht sogar die blöde Szene glaubhaft, als sie ihren toten
Mann zum ersten Mal im Schlaf zu hören glaubt und rund ums einsame Haus
kreist, im wesentlich feinfühliger aufgebauten Rest des Films trifft sie
die überraschenden Registerwechsel im Charakter jedes Mal punktgenau,
suggeriert oft mehrere widerstreitende Emotionen unter einer sorgsam
kontrollierten Oberfläche: Es ist, vorläufig, die Rolle ihrer Karriere.
(„Bis jetzt war es Der Nachtportier von Liliana Cavani, der in den Köpfen
der Leute hängen geblieben ist. Für meine zweite Lebens hälfte wird es
"Sous le sable " sein.”: Das passt schön zur Frau in der Lebensmitte, die
sie hier spielt und deren Wechsel aus der Phase mit Partner in die
ohne.)
Während sich Ozons Film immer mehr hingebungsvoll auf Marie zentriert
(als nuanciertes Porträt der eher selten gewürdigten
Filmheldinnenrandgruppe „Frauen über 50” ist er sowieso unschätzbar und,
so man Ozons erklärtes Ziel, die Schönheit von Ramplings Falten filmen zu
wollen, als Kriterium heranzieht, ist er ein Meisterwerk), verliert er
ein wenig von der Komplexität seiner Anlage: Die äußere Spannung wird
tatsächlich in innere übertragen. Langsam blättern die thrillerhaften
Plotbruchstrücke weg: Die Frage, was mit Jean geschehen ist (was
anfänglich wie ein Unfall wirken könnte, wird von Marie später als
möglicher Selbstmord ausgelegt, die Schwiegermutter legt eine „viel
grausamere Wahrheit” nahe: Jean sein in ein neues Leben verschwunden,
weil ihn das kinderlose Dasein mit Marie gelangweilt hätte), die
anfänglich irritierenden Szenen mit Jeans Phantom und der
undurchsichtigen Regelung seines finanziellen Nachlasses: sie werden
beiseite gewischt, um absolute Konzentration auf das zu erlauben, was in
Marie vorgeht. Das scheint den Film zunächst zu reduzieren, erreicht im
kathartischen, vieldeutigen Ende aber eine Reinheit von erstaunlicher
emotionaler Durchschlagskraft. Marie/Charlotte Rampling geht zurück ans
Wasser, an den Strand, beginnt im Abglanz des Sonnenuntergangs zu weinen,
als das Licht verschwindet und das Ufer in natürliche Farben taucht. Und
dann feiert eine grandiose letzte Einstellung ein Paradox, das Ozons
Beschäftigung mit dem Leid implodieren lässt: Unter dem Sand hört
wortwörtlich auf, indem er weitergeht.
Fazit: Vielschichtiges, psychologisch komplexes Frauenporträt mit
Einsprengseln von Krimi und übernatürlichem Film: Eine unspektakulär
bewegende Studie der Trauerarbeit.
Christoph Huber, 21.12.2001
Dieser Text ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem Film gibt es im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Unter dem Sand
Sous le sable
Frankreich, 2000
Mit: Bruno Cremer, Charlotte Rampling
Regie: François Ozon
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