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Urteil
von Nürnberg
Realismus im Gerichtssaal
„Overture“
– vier Minuten dunkle Leinwand und ein Wort. Posaunen, schwere Trommeln, Soldatengesang.
„Heute wollen wir marschieren...“. Mehr brauchte Regisseur Stanley Kramer 1961
nicht, um das Vorspiel zu den Nürnberger Prozessen gebührend zusammenzufassen:
Die ungezählten Bilder der deutschen Barbarei waren bereits in das Gedächtnis
der Welt eingebrannt, brauchten nur ausgelöst zu werden. Zugleich spiegelt
die Leere notwendig die Unfassbarkeit des Geschehenen und das Leitmotiv von
Judgement
at Nuremberg
wider – den Versuch zu verstehen.
Kramer
wählte mit Bedacht nicht den Hauptprozess, in dem sich die 24 Hauptkriegsverbrecher
vor dem Internationalen Tribunal der Alliierten verantworten mussten, verwirft
überhaupt historische Partikularität. Stattdessen beschränkt
er sich auf einen fiktionalen, einen typischen Prozess, den er an den dritten
Nürnberger Folgeprozess, den sogenannten Juristenprozess, angelehnt hat.
Es sind gesellschaftliche Eliten, Hüter der Verfassung, die wegen ihres
menschenverachtenden Gehorsams, nicht selten vorauseilenden, und seiner Folgen
vor Gericht stehen. Vor allem Dr. Ernst Janning (Burt Lancaster), ein NS-Recht
sprechender Richter, erweist sich im Prozessverlauf als nicht leicht zu fassende
Gestalt: Der fachlich herausragende Jurist folgte dem Regime nach 33 bereitwillig,
im Krieg pflichtgemäß, wandte Rassengesetze und politische Justizwillkür
ebenso an wie er Strafen abmilderte und Verfolgten insgeheim half. Die moralische
Beurteilung wird nicht leichter durch Jannings hervorragenden Anwalt Hans Rolfe
(Maximilian Schell), der rhetorisch geschickt, aber amoralisch jedes Entlastungsargument
heranzieht, wohingegen Militärankläger Colonel Tad Lawson (Richard
Widmark) inbrünstig die Anklage im Namen der Menschlichkeit führt.
Der Hauptrichter Dan Haywood (Spencer Tracy) schließlich hat die schwierige,
politisch bedrängte Aufgabe einer Synthese in Urteilsform.
Dank
seines stringenten Drehbuchs ist Judgement
at Nuremberg
zunächst ein hervorragender Gerichtsfilm, dem man seine Länge kaum
anmerkt. Seine besondere Qualität gewinnt er aber durch Kramers abwägendes
Verstehenwollen und seine authentische Empörung über den Ausgang der
Prozesse. Die vier Angeklagten stehen zwar für eher traditionelle Erklärungsversuche
des Mitmachens, etwa Bereicherung oder Untertanengeist. Kramer bleibt jedoch
bei ihnen nicht stehen und sucht auch bei den Deutschen außerhalb des
Gerichtssaals, bei den Davongekommenen nach Antworten. Bei Frau Bertholt etwa
(ironischerweise Marlene Dietrich): Die gewesene Dame und Frau eines hingerichteten
Kriegsverbrechers hat Eleganz und Eloquenz auch in den Trümmern nicht verloren,
betreibt kulturellen Wiederaufbau – und verzeiht die „Siegerjustiz“ nicht. Andere
Deutsche verleugnen ihre Verstrickung, sehen sich von ihrem Adolf getäuscht
und verraten, sind durch eigenes Leid gelähmt, blind. Und über allem
herrscht eine unfassbare Notwendigkeit: Das Leben geht weiter.
Diese
Kontinuität ist es, die Kramers Kritik beseelt. Wie Deutsche wieder Bier
trinken und tanzen nach der Katastrophe, wie junge, ambitionierte Juristen methodisch
an die Barbarei anknüpfen, vor allem aber das politische Primat im Prozess
befremden nicht nur, sie rufen stille Wut hervor. Schnell, zu schnell holt der
Realismus die Moral im Gerichtssaal ein: Der Kalte Krieg wirft seine Schatten,
aus Feind wird Freund und Pragmatismus bricht die lästige Moral. Kramer
zeigt ernüchternd, dass auch Sieger nicht vor moralischem Versagen gefeit
sind, der historische Fortschritt, den die Nürnberger Prozesse bedeuten,
nur ein halber ist. Düster endet dann auch der Film mit dem Hinweis, dass
zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung alle Verurteilten bereits begnadigt
worden sind. Anschließend setzt erneut Marschmusik ein.
Thomas
Hajduk
Zu diesem Film gibt es im archiv mehrere Texte
Urteil
von Nürnberg
USA
1961 – Orginaltitel: Judgement at Nuremberg – Regie: Stanley Kramer – Darsteller:
Spencer Tracy, Burt Lancaster, Richard Widmark, Marlene Dietrich, Maximilian
Schell – Länge: 186 Min.
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