zur startseite
zum archiv
Uzala,
der Kirgise
Andere Wege der
Erkenntnis
"Dersu,
weißt Du überhaupt,
was die Sonne
ist." "Sonne?
Das wissen wir
alle. Du noch
nie Sonne gesehen?
Dann
gucken!"
Dersu (Maksim Munzuk) - das ist "das" Leben,
die Weite der Taiga, die Taiga selbst, ist Teil der Taiga und doch einer, der
sich in ihr bewegt, wie kein anderer sich in ihr zu bewegen scheint. Dersu,
der Kirgise, vom Stamme der Golden. Dersu ist allein, hat seine Frau und seine
Kinder durch Pocken verloren. Und doch ist Dersu nie einsam - im wahrsten Sinne
des Wortes: nie. Dersu, der alte Mann, keiner weiß, wie alt er wirklich
ist, auch er nicht, Dersu Uzala scheint ein Überbleibsel einer vergangenen
Zeit, ein un-zivilisierter Mensch, der als Jäger durch die Taiga streift,
einer, der nichts weiter kennt als die Natur, die ihn umgibt, und die kennt
er gut. So gut, dass Vladimir Arseniev (im Film gespielt von Yuri Solomin) seine
Bekanntschaft mit dem Kirgisen in einem viel beachteten Roman schilderte, der
nicht nur Maxim Gorki Respekt abverlangte (1).
Kein geringerer als Akira Kurosawa widmete dem Kirgisen
und dem Roman Arsenievs 1975 einen immerhin zwei Stunden und zwanzig Minuten
dauernden Film, der, wie ein Rezensent einmal schrieb, der Viva- und MTV-Generation
vielleicht zu viel Geduld abverlangen dürfte. "Dersu Uzala" schildert
die zwei Begegnungen zwischen Dersu und Arseniev in den Jahren 1902 und 1907,
als der Offizier Arseniev mit einigen Soldaten Teile der Ussuri-Region erkunden
und topographisch erfassen sollte.
Eines Nachts treffen Arseniev und seine Leute auf
den kleinen Mann, der als Jäger durch die Taiga streift. Dersu hat kein
zu Hause in ihrem Sinn, keine Hütte, in die er immer wieder zurückkehren
würde. Sein Zuhause ist die Taiga, die unendlich scheinenden Wälder,
die Steppen, die vereisten Seen. Die Taiga liefert ihm alles, was er zum Leben
benötigt: Kleidung, Essen, Schutz vor Kälte, Ruhe und Besinnlichkeit,
Muße und Geborgenheit. Arseniev ist begeistert von dem nur gebrochen russisch
sprechenden Mann. Er fragt Dersu, ob der die Soldaten durch die Region führen
wolle - und am nächsten Morgen entscheidet sich Dersu, das Angebot anzunehmen.
Und so streifen die Soldaten geführt von Dersu
durch die Einsamkeit der Taiga - und schnell begreifen sie, dass Dersu einer
anderen Welt als sie selbst angehört. Er ist keiner jener sich zivilisiert
nennenden Menschen, die sich in Städten wohlfühlen würden. Als
die Gruppe eine Hütte, in der man übernachtet hat, verlassen will,
sammelt Dersu trockenes Holz für diejenigen, die möglicherweise morgen,
in ein paar Tagen oder Monaten hier vorbeikommen könnten, damit auch sie
Feuerholz haben. Das ist Dersu. Als die Soldaten (vergeblich) auf eine Flasche
schießen, die sie an einem Seil befestigt haben und die hin und her pendelt,
meint Dersu, es sei nicht gut, in der Taiga eine Flasche zu zerschießen,
die man noch einmal brauchen könne; schließlich finde man eine Flasche
in der Taiga nicht alle Tage. Er zielt auf das Seil, um die Flasche nicht zu
zerstören - und trifft, während die Soldaten nicht einmal die Flasche
getroffen hatten.
Dersu weiß, wann man weitergehen kann, weil
er weiß, dass es demnächst aufhört zu regnen. Er weiß,
welche Spuren in der Taiga ihm was sagen.
Zu den schönsten Szenen gehört jene, in
der der Kirgise und Arseniev auf einem teilweise zugefrorenen See entlang gehen,
von einem Sturm überrascht werden und den Rückweg zu den anderen Soldaten
nicht mehr finden. Auch der Kompass des Offiziers nutzt nun nichts mehr; man
hat sich verlaufen und die Nacht kündigt sich an. "Sammeln! Sammeln!
Schnell! Beeil dich!" ruft Dersu dem Kapitän Arseniev zu. Man sieht
beide, wie sie fast mannshohes Gras sammeln und zusammentragen, und Dersu baut
in der beginnenden Dunkelheit mit Hilfe eines Messgeräts mit drei Beinen
eine provisorische Hütte aus dem Gras, damit beide in der Nacht nicht erfrieren.
"Der Mensch
wird klein, wenn
er mit der großen
Natur auf
Tuchfühlung
gehen will."
(Arseniev)
Arseniev beginnt zu begreifen, dass er und Dersu
aus ganz unterschiedlichen Welten stammen. Und trotzdem beginnt in diesem Jahr
1902 eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Männern. Jeder der beiden
weiß, dass er in der Welt des anderen nicht auf Dauer leben könnte.
Später, als sich die beiden bei einer weiteren Expedition Arsenievs im
Sommer 1907 wieder treffen und Arseniev Dersu mit nach Hause nimmt, wird dies
nach kurzer Zeit deutlich. Und doch lernen sich diese beiden Welten so intim
und innig kennen, dass es nur Freude macht, die langen, oft beschwerlichen Wege
der beiden durch die winterliche, einsame Taiga mit zu verfolgen. Denn auch
wir lernen diese uns so fremde Lebensweise in einer Art und Weise kennen, dass
sie uns schnell vertraut wird, auch wenn wir wissen, dass wir selbst nicht so
leben könnten.
Kurosawa, der in vielen seiner Filme ein Individuum
in den Vordergrund des Geschehens rückte, um zu zeigen, was "Individuum"
eigentlich bedeutet, gelingt es auch in diesem Film wieder, das Wunderbare,
zugleich aber auch Tragische und wiederum Komische "des Lebens" in
der Person des Dersu Uzala zu konzentrieren. Dersu repräsentiert eine Welt
der wirklichen Verbundenheit des Menschen mit seiner Herkunft, mit der außermenschlichen
Natur. Dersu begreift die Natur nicht als ausbeutbares Reservoir, aus dem man
sich stets und bedienen kann - ohne Rücksicht auf die Folgen. Er nimmt
nur das, was er unbedingt zum Leben benötigt. Dersu hat ein Wissen, das
nicht dem Forschungsdrang und den Wissenschaften der zivilisierten Welt entstammt.
Die Natur ist für ihn nicht Gegenüber, Objekt, formbarer Gegenstand,
degradiert zum Mittel menschlicher Zwecke, die außerhalb der Natur liegen.
Natur ist nicht identisch mit dem Menschen. Aber der Mensch ist noch in einem
wahrhaftigen Sinn aufgehoben in der außermenschlichen Natur. Dersu erhebt
sich zwar über die Natur als lebendiges, leidenschaftliches Individuum,
aber nicht im Sinne eines instrumentellen Verhältnisses, das zur Plünderung
und Destruktion führt. Dersu lebt mit der Natur in einer symbiotischen
Art und Weise.
Diesem Verhältnis entspricht der ganz "natürliche"
Respekt vor allem, was ihn umgibt, und die Abwesenheit von Gefühlen wie
Neid, Geiz oder Habgier. Als Dersu erzählt, er habe das Geld, das er aus
dem Verkauf von Zobeln, die er gejagt hatte, einem Kaufmann zur Verwahrung gegeben,
der daraufhin mit dem Geld verschwunden sei, kann er dieses Verhalten nicht
begreifen. Er ist nicht böse, er trauert nicht dem Geld nach; er kann nur
nicht verstehen, wie sich ein anderer Mensch derart verhalten kann.
Andererseits versteht er Arseniev, weil er merkt,
dass der Kapitän ein Gefühl für das Leben in der Taiga entwickelt
und zuhört, fragt, sich Gedanken macht usw. Er bemerkt, dass in Arseniev
und auch den anderen Soldaten jene "Tradition" noch schlummert, deren
Eigentümlichkeit darin besteht, menschliche wie außermenschliche
Natur als eine Einheit zu begreifen und zu empfinden. Selbst der Aberglaube
erscheint bei Dersu als Ausfluss dieser Verbundenheit und dieser Achtung. Als
er in einer Notsituation einen Tiger anschießt, ist Dersu tagelang schlecht
gelaunt, weil er meint, der Tiger schicke ihm einen bösen Geist, der ihn
töten solle. Der Tiger ist in dieser Hinsicht - ja nicht zu Unrecht - eine
Art König der Taiga, ein einsam umherstreifendes mächtiges Tier, Dersu
und ähnlichen Menschen ganz ähnlich. Das macht ihn zu einem quasi
heiligen, unantastbaren Lebewesen, dessen Tötung einem Verbrechen nahe
kommt.
Der Tod Dersus am Schluss des Films - erschossen
von irgendwelchen Banditen, die sein Gewehr haben wollten, ein neues Gewehr,
das ihm Arseniev geschenkt hatte, als Dersu wieder zurück in die Taiga
ging -, dieser Tod ist auch eine Art Todesschuss gegen alle Dersus, soweit sie
zu dieser Zeit lebten oder auch heute noch irgendwo leben sollten.
Dabei unternimmt Kurosawa nicht etwa den (eurozentristisch
geprägten) Versuch, irgend so etwas wie ein "Zurück zur Natur"
zu predigen. "Dersu Uzala" ist kein naiv-romantischer Versuch irgendwelcher
Naturbündelei-Bewegungen, die sowieso nie viel mehr waren als ein Abwehrreflex
gegen industrielle oder postindustrielle Modernisierungsschübe und höchstens
gewisse Korrekturen im Prozess der Industrialisierung anbringen konnten. Wenn
schon, dann repräsentiert "Dersu Uzala" den Versuch einer Rückbesinnung,
einer Reflexion über das Entstehen der Zivilisation und ihrer Irrtümer
und Irrwege, ohne die Repräsentanten der Zivilisation, im Film die Soldaten,
zu verurteilen oder zu verdammen. Die Frage ist eher: Was lernen sie aus der
Begegnung mit Uzala für ihre eigene Welt? Und was lernen wir daraus?
Die Bilder der Taiga, der Seen, Flüsse, Tiere,
des Winters wie des Sommers, der untergehenden Sonne sind alles andere als romantisierend
oder idyllisierend. Kurosawa gewährt lediglich Einblick in die Einsamkeit
und Vielfalt und darin, wie sich ein Mensch darin bewegt. Das Feuer, der Wind
und das Wasser, sagt Dersu, sind nützlich, aber sie können auch viel
Schaden anrichten. Damit muss der Mensch leben, ob er will oder nicht. Die Sonne
ist für ihn kein Experimentierfeld wissenschaftlicher Betätigung.
Die Sonne ist "einfach" die Sonne, wie der Mond der Mond ist - und
beide weisen dem Menschen den Weg und nutzen ihm in anderen Dingen.
Maksim Munzuk "ist" Dersu - so kann man
die Rolle, die er spielt, eigentlich nur charakterisieren, diesen Kirgisen,
der von sich selbst oft als "die eigene Leut" spricht, der nur ab
und an "ich" sagt, statt dessen von sich eben als das spricht, was
er ist: Mensch. Yuri Solomin ist ihm ein angemessenes schauspielerisches Gegenüber
als immer wieder staunender, wissbegieriger "zivilisierter" Mensch.
Und Kurosawa ist für mich der einzig in Frage kommende Regisseur, der dieses
bildgewaltige, aber - wie gesagt - nie übermächtigende oder romantisierende
Epos in Szene setzen konnte. Wenn etwas seine Filme durchzieht, dann ist es
der Schrei des einzelnen nach Leben angesichts der lebensbedrohenden Wege der
Zivilisation. In "Dersu Uzala" war ihm dies auf eine einzigartige
Weise (wieder einmal) gelungen.
(1) Arseniev (1872-1930) unternahm
zwischen 1902 und 1930 zwölf größere Expeditionen zwischen Ussuri
und Stillem Ozean - als Geologe, Ethnologe, Sprachforscher, Botaniker, Topograph
und Zoologe. In über 60 Publikationen schrieb er seine Forschungsergebnisse
nieder. Als er 1930 starb, lag bereits ein Haftbefehl gegen ihn vor; seine Frau
wurde 1938 als angebliche "japanische Spionin" von den sowjetischen
Behörden ermordet. Nach Arsenievs Rehabilitation wurde sein Buch über
Dersu Uzala 1949 publiziert und zu einem Welterfolg.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Uzala,
der Kirgise
(Dersu
Uzala)
Sowjetunion,
Japan 1975, 141 Minuten
Regie:
Akira Kurosawa
Drehbuch:
Akira Kurosawa, Yuri Nagibin, nach dem Roman von Vladimir Arsenyev
Musik:
Isaak Shvarts
Kamera:
Fyodor Dobronravov, Yuri Gantman, Asakazu Nakai
Schnitt:
Akira Kurosawa
Ausstattung:
Yuri Raksha
Darsteller:
Maksim Munzuk (Dersu Uzala), Yuri Solomin (Kapitän Vladimir Arseniev),
Svetlana Danilchenko (Frau Arseniev), Dmitri Korshikov (Wowa Arseniev), Suimenkul
Chokmorov (Jan Bao), Vladimir Kremena (Turtwigin)
zur startseite
zum archiv