zur startseite
zum archiv
Vacationland
Joe, schwul und mit künstlerischen Ambitionen,
hätte gewiss eine schönere Umgebung fürs „Coming out“ verdient.
Doch er wächst in den 1980er-Jahren in der unwirtlichen „Capehart“-Siedlung
im engen und spießigen Provinzkaff Bangor im „Urlaubsstaat“ Maine auf,
wo alle nur einen Traum haben: Abhauen! Oder die eigene Wohnung in Brand setzen!
Oder den ungeliebten Ehemann in 15 Einzelteile zerhacken! Oder das neugeborene
Baby töten, weil es sich um den Anti-Christ handeln könnte!
Wenn Andrew – noch während der Vorspanntitel
– solche Ereignisse Revue passieren lässt, hält er ein altmodisches
Telefon in der Hand, mit dem Ben, der Geliebte seiner Mutter, diese bis zur
Bewusstlosigkeit verprügelt hat. Das klingt alles drastisch, aber „Vacationland“
schlägt zunächst einen ganz anderen, slackerhaften Ton an und erzählt
von Joes Alltag, seinen Träumen und Wünschen. Joe ist in Andrew verliebt,
den besten Football-Spieler an seiner Schule – und der ist damit automatisch
das Objekt der Begierde der Cheerleader-Anführerin. Joes Schwester Theresa
träumt davon, eines Tages nach Los Angeles abzuhauen, doch bevor sie diesen
Traum realisieren kann, fällt sie erst noch einmal die bürgerliche
Karriereleiter hinauf und wird stellvertretende Supermarkt-Leiterin. Wahrscheinlich,
so genau erschließt sich die Topografie des tristen Ortes nicht, gibt
es in Bangor nur einen Supermarkt; auf jeden Fall aber gibt es in Bangor nur
einen Schwulen-Club und offenbar auch nur eine Klappe, die öffentliche
Toilette. Dort trifft Joe überraschend auf seinen sonst immer so korrekten,
leicht herablassenden Französischlehrer, was ihm zunächst etwas peinlich
ist. Später wird er die gemeinsamen sexuellen Präferenzen dafür
nutzen, sich den Weg an die Kunstakademie zu bahnen. Dabei ist ihm auch der
todkranke Künstler Victor behilflich, dem Joe ab und zu Modell steht.
Todd Verow, ein „total film maker“ (Regie, Buch,
Schnitt, Produktion) in bester Underground-Tradition („Frisk“, „Anonymous“),
erzählt zunächst einmal von den Zwängen und Frustrationen des
Erwachsenwerdens in der Provinz. Das hat durchaus seine komischen Seiten: Als
beispielsweise die Cheerleaderin mitbekommt, dass ihr Freund Andrew Joes Avancen
aufgeschlossen gegenübersteht, will sie zumindest für die Öffentlichkeit
die Inszenierung des heterosexuellen Alpha-Paars aufrechterhalten wissen, weil
ihr Status an den seinigen gekoppelt ist. Andererseits: Homoerotische Praktiken
haben ihre geheimnisvollen Reize; vielleicht könnte man ja einmal dabei
zuschauen oder vielleicht auch selbst... Leichtfüßig ist „Vacationland“
in solchen Momenten, wenngleich eine hysterische Verzweiflung auch in diesen
Szenen untergründig spürbar bleibt. Aus der Not, dass die Produktion
offenkundig über wenig Geld verfügte, macht der Film eine Tugend,
indem die Kamera vorwiegend auf halbnahe Einstellungen setzt, nah an den Akteuren
ist, aber kaum einmal einen Blick aufs große Ganze erlaubt. Doch allmählich
mischen sich immer dunklere Töne in die Erzählungen, kommen Kindheitstraumata
ans Licht, wird Sexualität mit Gewalterfahrungen verknüpft. Plötzlich
erwachen die Gespenster der Vergangenheit zum Leben, offenbaren Verletzungen
und Sadismen, die sich tief in die Biografien einschreiben werden. Die zärtlich-unschuldige
Beziehung zwischen Joe und Andrew erfährt einige Irritationen, bis ein
friedliches Schlusstableau gelingtl, das das „Vacationland“ tatsächlich
einmal als solches zu zeigen wagt.
Wenn der Film gegen Ende etwas mühsam all seine
widersprüchlichen Handlungsfäden noch einmal aufgreift und einen Schlusspunkt
zu setzen versucht, stehen Verzweiflung, Orientierungslosigkeit, Gewalt und
Rache gegen die letztlich überraschend optimistische Einsicht, dass, wenn
man stets das Schreckliche erwartet und jede Chance, die sich bietet, ergreift,
„in dieser Welt einfach alles möglich wäre“. Im Falle Joes scheinen
Kunst und Liebe diese Philosophie zu bestätigen, dagegen steht Theresas
ungewisses Schicksal in Los Angeles für die Folgen von Selbstbetrug und
Tagträumerei. Ungewiss auch, inwieweit die Philosophie des genutzten günstigen
Moments eine Affirmation der Amoralität umfasst, die in Erpressung, Diebstahl
und Rache zum Ausdruck kommt. Hatte nicht auch der fette, brutale Kinderschänder
seinerzeit die Gunst der Stunde genutzt? „Vacationland“ gibt sich ausgesprochen
versöhnlich, ist vielleicht dem Milieu, das er beschreibt, abgerungen;
doch angesichts der widersprüchlichen Schwebe, die den Film so faszinierend
macht, scheint der Schluss fast wie ein Pfeifen im Wald.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-dienst 12/2007
Vacationland
USA
2006 - Regie: Todd Verow - Darsteller: Brad Hallowell, Greg Lucas, Jennifer
Stackpole, Mindy Hofman, Charles Ard, Theodore Bouloukos, Michael John Dion,
Hilary Mann, Nathan Johnson, Jennifer Mallett - FSK: ab 16 - Länge: 104
min. - Start: 7.6.200
zur startseite
zum archiv