zur
startseite
zum
archiv
Vincenzo
Marra, Regisseur und Drehbuchautor, legt mit seinem zweiten Langspielfilm Vento
di terra
(2004) eine Ansicht von Berlusconis Italien aus der Froschperspektive vor. Und
nimmt in seiner engen Zusammenarbeit mit Laien und seinem paradox künstlerischen
Dokumentarismus eine nationale Kinotradition zwischen Luchino Visconti und Pier
Paolo Pasolini auf.
Zur
Erinnerung: Wie es sich so lebt, wenn man heute nicht zufällig zum wohlhabenden
Drittel der Erdbevölkerung gehört, das kann noch immer ein ziemlich
herzzerreißendes Drama abgeben. Vincenzo Marra weiß das, und deshalb
muss sich sein Film Vento
di terra
nicht groß melodramatisch hineinsteigern in die Geschichte einer Arbeiterfamilie
am Stadtrand von Neapel. Die Versuche des jugendlichen Vincenzo Pacilli (verkörpert
von einem jungen Mann gleichen Namens, der ein hervorragendes, hauptsächlich
mit Laien besetztes Ensemble anführt), inmitten wirtschaftlicher Rezession
für seine Familie zu sorgen, inszeniert Marra eher in einer distanzierten,
elliptischen Abfolge von Tableaus und Miniaturen als in einem mit- und fortreißenden
Erzählstrom.
Nur
manchmal, in plötzlichen Eruptionen von Bewegung, wird die Kamera wackelig
mobil und setzt sich nach Methode der Brüder Dardenne den Menschen in den
Nacken und an den Körper. Zumeist aber herrscht ein statischer, "objektiver"
Gestus des Beobachtens vor, oder genauer: des Beweisens. Charakteristisches
formales Verfahren für diese zurückhaltende Aufmerksamkeit (die natürlich
weder wirklich neutral noch im engeren Sinn dokumentarisch ist, sondern engagiert
und extrem verdichtet) sind die langsamen, weiten Kameraschwenks, die Vento
di terra
dominieren: Ob nun in der ersten und der letzten Einstellung des Films der zentrale
Handlungsort, eine verfallene Wohnblock-Siedlung am Stadtrand von Neapel, ruhig
abgetastet wird, oder später einmal die Köpfe einer Reihe von Soldaten,
die sich von aufreibenden Disziplinierungsübungen ausruhen: immer ergeben
die Umblicke eher Panoramen als Handlungen, wirken eher stichprobenhaft aufzeichnend
als erzählend. So, als würden die "Fakten" des Films schon
für sich sprechen, müssten nur audiovisuell dokumentiert werden.
Wenn
der Vater und Hauptverdiener der Familie stirbt, dann bleibt dem jungen Vincenzo,
um Mutter und Schwester zu ernähren, inmitten der tristen Arbeitsplatzlage
einfach nur die Wahl zwischen der Kriminalität (als radikalster Form prekärer
Selbständigkeit) und dem Militär (als letztem sozialen Schutzangebot
durch den Staat und zugleich logischem Extrem industrieller Körper-Disziplinierung).
Was soll seine Schwester Giovanna (Giovanna Ribera) anderes tun, als die Gelegenheit
nutzen, wenn ein Onkel ihr anbietet, ihr einen Posten bei sich im FIAT-Werk
zu beschaffen, auch wenn sich von Anfang an der Verdacht aufdrängt, er
wolle sexuelle Gegenleistungen dafür? Was soll die Mutter anderes tun,
als mit Selbstmord drohen, wenn sie ihr Vermieter (gegen geltendes Recht) aus
der Wohnung werfen will? Und ist es nicht absolut folgerichtig, dass am Ende,
wenn Vincenzo sein Leben wieder so weit unter Kontrolle hat, dass er es sich
sogar leisten kann, eine Freundin zu haben (seine letzte hat er nach dem Tod
seines Vaters verlassen, weil er für eine Beziehung einfach keine Energien
übrig hatte), plötzlich von einer Episode seines militärischen
Kosovo-Einsatzes eingeholt wird?
Ein
derartig brutaler erzählerischer Determinismus ist problematisch, aber
ist es nicht viel zynischer, inmitten solcher Armut von den erfolgreichen Willenshandlungen
freier Subjekte zu erzählen? Schließlich ist die evidente Unentrinnbarkeit,
die Vento
di terra
beschwört, nicht Effekt eines göttlichen kalkulierenden Schicksals
(wie es das aktuelle europäische Designer-Kino zwischen Tom Tykwer, Jean-Pierre
Jeunet und Julio Medem so gerne manieriert ausmalt), sondern der - kaum weniger
unerbittlichen - inhärenten Mechanismen einer Gesellschaftsordnung, deren
einzig wahre Internationale die weltweit entfaltete Kapitallogik immer größer
werdender Reichtumsgefälle ist.
Was
Vento
di terra
indes wirklich vor der Falle der kapitalismuskritischen Sozialpornographie im
Dienste eines behaglichen Schauderns über das Abenteuer Armut
bewahrt,
ist die grundsätzliche Vertrautheit mit seinen Charakteren, die Vento
di terra
ausstrahlt. Distanzierung hin, Konsequenz her - der Film unterschlägt nicht,
dass auch der stete Kampf ums Nötigste einen Alltag kennt, und damit auch
Momente von Geborgenheit in der Familie, Glück in der Liebe, Solidarität
und Freundschaft im Heer. Dass deren Netz längst nicht stark genug ist,
um alleine vor dem Abfallen in die Armut zu schützen, daraus muss man ja
kein Geheimnis machen.
Diese
Kritik ist auch erschienen in:
Italien
2004 - 82 min.
Regie:
Vincenzo Marra
Autor:
Vincenzo Marra
Kamera:
Mario Amura
Verleih:
Stadtkino
Darsteller:
Vincenzo Pacilli (Enzo), Edoardo Melone (Bruno), Francesco Giuffrida (Luca),
Giovanna Ribera (Marina), Vincenza Modica (Antonietta), Francesco Di Leva (Tarantino)
zur
startseite
zum
archiv