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Vera
Drake
Eine
Frage der Moral?
Vera
Drake ist eine wahre Heldin der Arbeiterklasse. Tagsüber verrichtet sie
den Haushalt für eine Londoner Familie der Oberschicht. Wenn sie nach Hause
kommt, geht die Maloche ohne Klagen weiter. Im Gegenteil, Vera hat immer ein
Lied auf den Lippen: wenn sie für ihren Mann Stanley den Kaffee aufsetzt,
mit dem kargen Einkommen ein Abendessen zubereitet und für die Familie
den Tisch deckt. Auch Stanleys Bruder Frank beneidet ihn um diese Frau (er selbst
ist mit einer viel jüngeren Frau, einer sozialen Aufsteigerin, verheiratet),
und Stanley selbst bringt es schließlich auf den Punkt: "Vera ist
ein Juwel."
Selten
hat die Kinoleinwand eine so grundgütige, hilfsbereite und liebevolle Frau
erlebt und selten hat ein Film das Leben einer Arbeiterfrau so eindringlich
geschildert. Mike Leighs "Vera Drake", dessen Hauptdarstellerin Imelda
Staunton dafür 2004 einige der wichtigsten europäischen Darstellerpreise
abräumte, beginnt wie eine Ode an das Refugium der Arbeiterfamilie. Doch
langsam wechselt der Film in einen anderen Modus, zunächst fast unbemerkt,
denn Vera geht mit derselben Umtriebigkeit zu Werke, mit der sie vorher bereits
ihrer Familie das Essen hergerichtet hat. "Setz du schon einmal das Wasser
auf, Liebes", trägt sie einem jungen Mädchen auf, als ginge es
um eine Tasse Tee. Erst langsam schwant den Zuschauer/innen, zu welchem Zweck
Vera die Käsereibe, das Öl und den Schlauch aus ihrer Brotdose holt.
Der ganze Prozess dauert nur wenige Minuten, dann hat Vera Drake die Abtreibung
durchgeführt. Schnell ist sie wieder aus der fremden Wohnung verschwunden
und zurück im Schoß der Familie, denn Leighs London ist kein einladender
Ort. Es ist das Jahr 1950, und Englands Städte sind noch schwer gezeichnet
vom deutschen Blitzkrieg.
Regisseur
Mike Leigh ist international angesehen als feinfühligster Chronist der
britischen Arbeiterklasse (mehr noch als sein Kollege Ken Loach, der bei aller
Sympathie oft zu groben Vereinfachungen neigt). "Vera Drake" lebt
von dieser Hingabe. Leighs Zeichnung des Familienlebens der Drakes zeugt von
einer Genauigkeit und Geduld, die den Wert kleiner Gesten zu schätzen wissen.
Die Arbeiterwohnung ist der ultimative Hort familiärer Werte. Das Miteinander
der einzelnen Mitglieder – Stanley, der in der Autowerkstatt seines Bruders
arbeitet, die pathologisch schüchterne Tochter Ethel und Sohn Sid, ein
Edelschneider, der dem gesellschaftlichen Boom der Nachkriegsjahre in die Londoner
Tanzclubs folgt – wird behütet von Mutter Vera und erstrahlt in einer Aura
des Nostalgischen. Man befindet sich auf sicherem Mike-Leigh-Terrain, der Familie
– bis Veras Doppelleben vor dem Publikum gelüftet wird. Dass niemand in
der Familie von Veras unentgeltlicher Arbeit als "Engelmacherin" weiß,
steht von Beginn an außer Zweifel. Die Respektabilität der Arbeiterfamilie
ist zu bedeutsam, als dass man sie durch einen solch unmoralischen Akt gefährden
dürfe. Abtreibungen standen 1950 in England noch unter Strafe.
Es
reicht nicht, "Vera Drake" lediglich als Zeitporträt zu verstehen.
Was zunächst am meisten verwirrt, ist die Existenz eines Film zum Thema
"Abtreibung" an sich – im Jahr 2005. Die Kontroversen sind seit den
1980er-Jahren merklich abgeklungen. Was kann "Vera Drake", angesiedelt
in den 1950ern, zum heutigen Verständnis der Problematik also beitragen?
Zwei Tage nach den Oscar-Nominierungen für Mike Leigh (beste Regie, bestes
Original-Drehbuch) und Imelda Staunton (beste Hauptdarstellerin), ergab sich
die Gelegenheit, Leigh in seinem Londoner Büro zu interviewen. Die überschwänglichen
Reaktionen haben ihn darin bestärkt, zu "Vera Drake", den er
selbst als sein bisher vollkommenstes Werk betrachtet, Stellung zu nehmen.
"Wichtig
war für mich vor allem, dem Zuschauer das moralische Dilemma vor Augen
zu führen, in dem Vera Drake sich befindet. Ich bin nicht daran interessiert,
propagandistische Filme auf das Publikum loszulassen. Die Beurteilung von Veras
Handlungen hängt ganz von unserem Standpunkt ab. Ist sie schuldig oder
unschuldig? Warum tat sie es? Sind ihre Taten moralisch zu rechtfertigen? Aktuell
ist die Problematik in jedem Fall. Allein durch die Tatsache, dass das Thema
in den letzten Jahren durch religiöse Fundamentalisten, nicht zuletzt in
der Bush-Administration, wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten
ist. Versuche, Abtreibung nach Jahrzehnten wieder zu kriminalisieren, gibt es.
Wenn das gelingen sollte, werden zwangsläufig wieder Amateure wie Vera
die Arbeit von professionellen Medizinern machen müssen. Das Thema wift
eine Menge Fragen auf, die bis in unsere heutige Zeit Gültigkeit haben."
Die
ambivalente Haltung Leighs gegenüber seiner Titelheldin findet in den Filmbildern
allerdings keine Entsprechung. Imelda Stauntons Darstellung, ihre bedingungslose
Gutherzig- und Muttihaftigkeit lässt kaum Platz für Zweifel an der
Rechtschaffenheit ihrer Taten. Für Leigh ist diese Überhöhung
lediglich ein dramatisches Mittel, doch die Bilder des director of cinematography
Dick Pope – gravitätisch dunkel, körnig wie alte Farbfotografien –
sprechen zu sehr für sich, anstatt nachzuwirken. "Vera Drake"
befindet sich damit in bester Gesellschaft. Sozialkritik wird in England immer
noch zu ernst genommen, um sie der Interpretation des Zuschauers zu überlassen.
Die Filme Ken Loachs oder "Die
unbarmherzigen Schwestern"
von Peter Mullan sind nur zwei Beispiele dafür.
Was
"Vera Drake" zu einem - und darin hat Leigh absolut Recht - "vollkommenen
Werk" macht, ist die Beobachtungsgabe seines Regisseurs. Formelhaft ausgelegt,
überzeugt Leighs Darstellung des Klassenkonflikts, der sich bis in die
Gerichte fortsetzt. So schematisch seine Figuren auch konzipiert sind, entwickeln
sie sich dennoch zu komplexen Charakteren. Die Gegenüberstellung der jungen
Susan, einer Tochter aus gutem Hause, die nach einer Vergewaltigung unter teuer
erkaufter ärztlicher Obhut eine Abtreibung mit modernster Technik (inklusive
psychologischer Betreuung) durchführen lässt, und Vera, wie sie mit
ihrer bunten Brotdose heimlich die düsteren Wohnungen in den Londoner Arbeitervierteln
betritt, erzeugt eine zwingende Dissonanz in Leighs Gesellschaftsporträt.
Für Leigh besteht das "moralische Dilemma" Veras nicht darin,
dass sie illegale Abtreibungen durchführt, sondern dass sie sich aufgrund
der ökonomischen Verhältnisse gezwungen sieht, sie durchzuführen.
Und das ist ein Thema, das wohl nie an Relevanz verlieren wird.
Andreas
Busche
Dieser
Text ist zuerst erschienen im:
Vera
Drake
Großbritannien,
Frankreich 2003, Buch und Regie: Mike Leigh, mit Imelda Staunton, Richard Graham,
Eddie Marsan, Anna Keaveney, Alex Kelly, Daniel Mays, Philip Davis; Dt. Kinostart:
3. Februar 2005 bei Concorde
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