Vergiss Amerika
Smells Like Teen Spirit
Wenn man Anfang zwanzig ist und in einem neuen Bundesort wohnt,
der Aschleben heißt, dann muß man irgend etwas Tolles planen, was
es auch sei, "Amerika" beispielsweise. David, Benno und Anna machen
sich auf den Weg, getrennt und exemplarisch. Der eine geht zum Bund
und springt Fallschirm. Der andere wird Zivi und schützt die Vögel
auf Rügen. Die Dritte aber nimmt sich an Vanessa Jopp ein Beispiel
- das ist die Regisseurin des Films "Vergiß Amerika" - und nimmt
Schauspiel- und Szenenunterricht in der Weltmetropole Berlin.
Ja, das ist exakt die Exposition des deutschen Bildungsromans, und
jetzt können wir vorhersehen, wie Hoffnung zerstiebt und Frust sich
einstellt, und wird die klassische Dreierkonstellation in eine
emotional abgesicherte Zweierbeziehung münden? Ein Äquivalent für
erlittene Unbill? Es spricht für diesen - erstaunlich guten -
Debütfilm, daß die Fragen sich erübrigen. Wer kriegt Anna bzw. wen
nimmt sie sich? Vergiß es, du kriegst es schon mit, aber was
wirklich zählt, ist, daß du mit dem Trio mitläufst und damit ganz
zufrieden bist. Du kommst gar nicht auf die Idee, daß die Drei
einen Drehbuchplot rüberbringen müssen. Du glaubst an das, was grad
passiert. Regisseurin Jopp hat in ihrem Film umgesetzt, was sie im
Actors Studio (Jon Costopoulus) gelernt hatte.
Was in "Vergiß Amerika" passiert, ist ein klassischer
Wirklichkeitstransfer der medialen Art. - Äh? Ich fürchte, ich muß
es genauer sagen. Deswegen werde ich mich unter Ziff. 1) dem Plot
zuwenden, der beschreibt, wie die Zukunftsentwürfe der drei jungen
Neuenbundesbürger entwirklicht werden, und sodann unter Ziff. 2)
den reziproken Wirklichkeitszuwachs an Leinwandpräsenz notieren.
1. Zivi David möchte sich in Berlin zum Fotographen ausbilden
lassen. Aber die Vergangenheit des neuen Bundeslandes, dem
Aschleben angehört, holt ihn ein, und zwar in Gestalt seines
Vaters, der an den Rollstuhl gefesselt ist und der Pflege bedarf.
David findet sich in einem nostalgischen Provinzfotoladen wieder. -
Analyse: Zukunft und Gegenwart werden Vergangenheit. Übrigens geht
der Laden pleite. David muß woanders arbeiten: im Supermarkt an der
Fischtheke. Und wo ist Anna? Sind wir in einem Deprifilm?
(Mitnichten, s. Ziff. 2).
Fallschirmspringer Benno wird Jungunternehmer. Er handelt mit
amerikanischen Straßenkreuzern. Doch findet er keine Käufer. Was
tun? Kriminell werden? Schon löhnt ihn die polnische
Autoschiebermafia. 22.000 Mark bar: eine Zukunft in Aschleben?
Anna, die Pfarrerstochter, ausgebildete Schauspielerin - sie
kriegt kein Engagement. Was klappt, sind Synchronisationsarbeiten -
für Pornofilme. Deprimierend? Die neue Bundeswahrheit? Wohl schon,
aber wir haben jetzt endlich Ziff. 2):
2. Die Filmwirklichkeit des Vergiß Amerika hat etwas von einer
starken Persönlichkeit. - Wie sag ich es nur, ohne peinlich zu
werden? Also: Wenn man von jemand total beeindruckt ist, guckt man
ihm (ihr) auf den Mund, die Augen oder sonstwo hin, und es ist
egal, was er (sie) redet. Was zwischen den Dreien läuft oder nicht
läuft (schon wieder den kleinen Bruder von der Tankstelle abholen,
wo er sich vollsäuft) ist egal oder halbegal, aber das WIE: wie die
Attraktion des Trios funktioniert, das ist großartig und spannend
bis zum Schluß. Wir müssen die Schauspieler beim Namen nennen:
Marek Harloff (David), Roman Knizka (Benno), Franziska Petri
(Anna).
Dietrich Kuhlbrodt
Diese Kritik ist zuerst erschienen im:
Vergiss Amerika. D 2000. R:
Vanessa Jopp. B: Maggie Peren. K:
Judith Kaufmann. S: Martina
Matuschewski. M: Michael
Beckmann. P: Avista/WDR. D:
Franziska Petri, Marek Harloff,
Roman Knizka u.a. 90 Min. Arthaus
ab 16.11.00