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Der
Verlorene
In mehr als einer Hinsicht trifft auf Peter Lorres
einzige Regiearbeit der Titel „Der Verlorene“ zu. 1951 lief der Film in den
deutschen Kinos an und wurde nach wenigen Spieltagen aufgrund mangelnden Zuschauerinteresses
zurückgezogen. Auch Lotte Eisners späteres Urteil, dieses Drama über
den Alltag im Hitler-Faschismus besäße „dieselbe Qualität wie
die besten deutschen Filme aus der Zeit zwischen 1930 und 1932“ konnte ihn über
Jahrzehnte nicht dem Vergessen entreißen, bis eine Wiederaufführung
auf dem Filmfestival in San Francisco 1983 das Interesse einer neuen Generation
an Lorres Schmerzenskind weckte. Zum 100. Geburtstag des Schauspielers ist der
Film nun auf einer reichhaltig mit Zusatzmaterial ergänzten, in Ton und
Bild hervorragend remasterten Doppel-DVD erschienen: ein weiterer Schritt, den
„Verlorenen“ als bedeutendes Werk der deutschen (Nachkriegs–)Filmgeschichte
zu rehabilitieren.
Erzählt wird die Geschichte des angesehenen
Arztes Rothe, der am Ende des Zweiten Weltkriegs ein wichtiges Impfserum entwickelt.
Seine Verlobte leitet die Forschungsergebnisse heimlich nach England weiter.
Obwohl Dr. Rothe seine Geliebte – eher aus Eifersucht denn wegen ihres Geheimnisverrats
– umbringt, kommt es dennoch nicht zu einer Bestrafung: sein Mord wird vertuscht,
weil die Nazis Rothe als Kapazität in der Forschung nicht entbehren können.
Statt Sühne zu erleben, wird für Rothe das Töten zum Zwang. Weitere,
unschuldige Frauen sterben von seiner Hand. Unter falschem Namen arbeitet Rothe
nach Kriegsende in einem Auffanglager für „Displaced Persons“ und trifft
seinen Rivalen, den Ex-Gestapo-Agenten Hoesch wieder. Am Ende des als Rahmenhandlung
gestalteten Zwiegesprächs, in das die Rückblenden der Kriegsjahre
eingepasst sind, erschießt Rothe Hoesch und begeht dann Selbstmord.
Harun Farockis Filmessay „Peter Lorre – Das doppelte
Gesicht“ stammt aus dem Jahr 1983 und bettet Lorres Film in die Lebensgeschichte
des großen Schauspielers ein, der 1904 als Ladislav Loewenstein im österreich-ungarischen
Rózsahegy geboren wurde. Ende der 20er-Jahre kam Lorre nach Berlin, reüssierte
am Theater und wurde von Bertolt Brecht zu seinem Lieblingsschauspieler erkoren.
Sein Filmdebüt ließ nicht lange auf sich warten: „Kaum ein Film hat
den Faschismus so genau vorgezeichnet wie ‚M’, keiner hat ihn so genau nachgezeichnet wie ‚Der
Verlorene’, heißt es bei Farocki. Bereits in Fritz Langs Welterfolg „M
– eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) hatte Lorre den wahnsinnigen Serienmörder
verkörpert, der vor ein groteskes Standgericht gestellt wird, besetzt mit
Größen der Berliner Unterwelt. Der „Verlorene“ dagegen sucht das
„Urteil“, die Erkenntnis über sich selbst, um schließlich zu erfahren,
dass weder der Täter noch das einzelne Opfer in einem Land voller Mörder
weiter ins Gewicht fällt. Für das Scheitern des Films an den Kinokassen
war vermutlich die Schonungslosigkeit verantwortlich, mit der die Filmfigur
am Ende mit sich selbst und ihrer persönlichen Schuldverstrickung abrechnete:
Rothe lässt sich erhobenen Hauptes von einem Zug überfahren. Lorres
Appell an die Deutschen, sich der Mitverantwortung zu stellen, verhallte praktisch
ungehört. Sein Filmprojekt fiel unglücklicherweise in eine Zeit, in
der das allgemeine Interesse an konsequenter Entnazifizierung wieder nachließ.
Andere Regieprojekte zerschlugen sich. Kurz und trostlos streift Farockis Essay
Lorres zweite Hollywood-Phase, die Zeit nach dem „Verlorenen“-Debakel – wo er
in B-Movies nurmehr als Witzfigur herhalten musste, Film um Film seinen schauspielerischen
Magnetismus verlor und 1964 ziemlich armselig starb. Breiteren Raum nimmt Lorres
Exilkarriere in den USA ab 1933 ein. Auch hier schildert Farocki einen von darstellerischen
Höhepunkten (etwa im „Malteser Falken“ von 1941) gebremsten Abstieg in
den Ruhm, wie Farocki ihn beschreibt: „Von Lorre verlangte Hollywood erst Können,
dann Routine, zuletzt Prominenz“.
Eingehender widmet sich Robert Fischers Dokumentation
„Displaced Person“ dem Regisseur Lorre und seinem ehrgeizigen Filmprojekt. Neben
dem Filmwissenschaftler Christoph Fuchs und einer Nebendarstellerin des „Verlorenen“
kommt die 85-jährige Schauspielerin Gisela Trowe zu Wort, die damals eine
Prostituierte spielte, die als einzige das Wesen des Mörders erkennt –
und die seinen meuchelnden Händen entkommen kann. Die Szene durfte Trowe
improvisieren. Lorre habe sie angeblickt und ihr wurde „plümerant“, erzählt
die Schauspielerin. Dann entfuhr ihr das Wort vom „Totmacher“, das nicht im
Script stand. „Das Wort gibt es eigentlich nicht“, erzählt Filmregisseur
Romuald Karmakar, der den Un-Begriff als Titel seines Kammerspiels um den Kindermörder
Fritz Haarmann einsetzte („Der
Totmacher“, 1995). Karmakar bemerkt,
er habe „das Gefühl, dass der Film [Der Verlorene] gar nicht Teil unserer
Filmgeschichte, Teil unserer Filmkultur ist und man deswegen diesen Film ganz
oft hochhalten muss – ihn sehen und ihn denken und ihn gucken muss.“ So ganz
verloren ist „Der Verlorene“ eben nicht; schließlich sind viele Flops
der Filmgeschichte erst nach Jahrzehnten zum Klassiker geworden.
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Zu diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Texte
Der
Verlorene
(Alternativtitel:
Das Untier)
BR
Deutschland - 1951 - 98 min. – schwarzweiß - Verleih: National - Erstaufführung:
7.9.1951/8.6.1964 ZDF - Produktionsfirma:
Arnold
Pressburger Filmproduktion - Produktion: Arnold Pressburger
Regie:
Peter Lorre
Buch:
Peter Lorre, Benno Vigny, Axel Eggebrecht
Vorlage:
nach einer Idee von Egon Jameson
Kamera:
Václav Vich
Musik:
Willy Schmidt-Gentner
Schnitt:
Carl-Otto Bartning
Darsteller:
Peter Lorre
(Dr. Karl Rothe)
Karl John
(Hoesch/Nowak)
Renate
Mannhardt (Inge Hermann)
Johanna
Hofer (Frau Hermann)
Eva-Ingeborg
Scholz (Ursula Weber)
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