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Views
of a Retired Night Porter
Wo die Südseetapete
reißt
Fragmentierte Innenansichten aus einem polnischen
Pensionistenwohnzimmer: „Views of a Retired Night Porter“ von Andreas Horvath
Früher hat Nachtportier Marian Osuch in seiner
Freizeit ehrenamtlich die Angler inspiziert: ihre Lizenzen kontrolliert, ihre
Fänge auf die offiziellen Größenbeschränkungen hin überwacht,
Ausrüstung konfisziert. Es sei unumgänglich, meint Herr Osuch, sich
an Regeln zu halten, egal in welcher Ordnung man lebe. Eines Tages, erzählt
er, hat man ihn selber beim Angeln mit zu kleinen Fischen erwischt und für
ein Jahr vom Fischen suspendiert. Aber das hätte ihn nicht geschert, er
hätte in der Sperrfrist einfach weiter geangelt.
Es ist offenbar nicht besonders schwer, dem redseligen
Polen solche Doppelbödigkeiten zu entlocken. Krzysztof Kieslowski hat ihn
bereits 1977 in der Dok-Miniatur „Night Porter’s Point of View“ zum Sinnbild
zweigleisiger sowjetischer Überwachermentalität stilisiert, und nur
zu leicht ließe er sich in ein Psychogramm kleinbürgerlicher Seelenabgründe
à la „Der Herr Karl“ einspannen. Aber Andreas Horvath, österreichischer
Photograph und Filmemacher, hatte anderes im Sinn, als er den inzwischen pensionierten
Witwer 2005 in seiner Wohnung in einem Warschauer Vorort besuchte.
Statt ums Sezieren von Scheinheiligkeiten geht es
in „Views of a Retired Night Porter“ eher darum, eine historische, politische,
soziale Position in ihrer umfassenden Zusammengestückeltheit zu zeigen,
Mentalität als reine Oberfläche: Zwischen der Lust am Strafen und
dem Grant übers Bestraftwordensein, zwischen der Hingabe zur Vorschrift
und den eigennützigen kleinen Regelüberschreitungen besteht bei Herrn
Osuch einfach nichts, schon gar kein Widerspruch. Und zwischen dem alten Regimenostalgiker,
der sich auf dem Weg zum Grab seiner Frau am Friedhof verirrt, und dem aufstrebenden
Neuen Osten der Wirtschaftsnachrichten bleibt auch nur ein großer Riss.
Diesem Projekt der Fragmentierung eines Standpunkts
folgt auch Horvaths idiosynkratischer, aber hochgenauer Dokumentarstil: Während
der Monologe des pensionierten Nachtportiers schweift das Kameraauge wie ein
höflich desinteressierter Gästeblick durchs zugekitschte Wohnzimmer,
fixiert Madonnen, tastet die Zuckerkörner auf der blumengemusterten Tischdecke
ab und starrt dem Gastgeber beim Essen auf Schinkensemmel und schmutzige Fingernägel.
Dieses Auge fürs Detail hat bei Horvath nichts mit auratischer Poesie des
Augenblicks zu tun und nur wenig mit einer expliziten Kommentierung des Gesprochenen.
Stattdessen akkumulieren sich die Texturen und Formen aus des Nachtwächters
Habitat zu einer eigenständigen Bilderwelt, die subtil ins Erzählte
hineinlappt. Risse in der grellen Südseeinsel-Wandtapete und Wachhunde
im Fernseher werden zu Insignien eines Lebens in sowjetischen Diskursruinen.
Joachim Schätz
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: falter (Wien), www.falter.at
Views
of a Retired Night Porter
Ö /
POL 2006
Konzept:
Andreas Horvath
Regie: Andreas
Horvath
Interview:
Monika Muskala
Kamera: Andreas
Horvath
Ton: Andreas
Horvath
Schnitt:
Andreas Horvath
Musik: Marek
Grechuta
Laufzeit:
38 min.
Drehformat:
Mini-DV
Bildformate:
Digi-Beta, Beta-SP
Bildschirm:
4:3
Stereo
Sprache:
Polnisch
Untertitel:
English
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