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1960 kehrte Luis Buñuel auf Einladung Francos
aus dem mexikanischen Exil nach Spanien zurück und erhielt die Freiheit,
nach seinem Belieben einen Film zu drehen. Das Ergebnis war „Viridiana“, eine
fundamentale Abrechnung mit der katholischen Moral. Das Drehbuch war wohl nur
deshalb durch die Zensur gekommen, weil die Prüfer sich keine Vorstellung
machen konnten, welche Bildkraft Buñuel zu entfalten in der Lage war.
Der Film erhielt trotz offizieller Proteste des Vatikans in Cannes die Goldene
Palme und wurde umgehend in ganz Spanien verboten.
In den frühen Sechziger Jahren herrschte in ganz
Europa eine viel strengere öffentliche Moral und die Stellung der Kirchen
war weit einflussreicher als heute. Auch Filme wie Fellinis „La
Dolce Vita“ oder Bergmans „Das
Schweigen“ lösten
länderübergreifende Skandale aus. Doch was „Viridiana“ auszeichnet,
ist nicht eine für die damaligen Verhältnisse zu freizügige Darstellung
von Sexualität und Moral. Buñuel greift mit diesem Film die christliche
und speziell die katholische Moral an ihren Wurzeln an. Es werden nicht bigotte
Auswüchse des Katholizismus kritisiert, es wird vielmehr dargestellt, dass
dieses Moralgebäude von Grund auf pervertiert ist und nur immer neue Perversionen
gebären kann.
Viridiana (Silvia Pinal) ist eine junge Novizin, die
kurz davor steht ihre abschließenden Weihen zu erhalten. Sie wird von
ihrem reichen Onkel Don Jaime (Fernando Rey) auf sein ländliches Gut eingeladen.
Die grenzenlose Frömmigkeit Viridianas wird uns deutlich, wenn sie in der
ersten Nacht zu Bett geht. Sie hat nicht einfach ein Kruzifix dabei, sondern
ein riesiges hölzernes Kreuz nebst einer Sammlung mächtiger Nägel
und einer echten Dornenkrone. Diese Gegenstände arrangiert sie feierlich
auf einem Kissen, um davor zu beten. Das Ausmaß, in dem hier die Foltergeräte
Christi zum Gegenstand demütiger Verehrung werden, wirkt verstörend.
Buñuel suggeriert mit solchen Bildern und mit der Darstellung, wie Viridiana
mit geschlossenen Augen im Nachthemd durch das Haus schlafwandelt und dabei
Asche aus dem Kamin holt, die sie in ihr Bett schüttet, dass unter der
Oberfläche dieser so braven und züchtigen jungen Frau etwas Verdrängtes
liegt, dass diese Frömmigkeit nicht gesund ist.
Don Jaime wird Zeuge dieser im Schlaf vollzogenen
Handlung. Er verfolgt seine Nichte, die wie ein Gespenst durchs Haus schleicht,
mit seinen Blicken. Dieser Onkel wird auf den ersten Blick als liebenswürdiger
und zupackender Großgrundbesitzer geschildert, doch zeigt uns Buñuel,
dass er tiefe Abgründe verbirgt. Seine Frau war in der Hochzeitsnacht in
ihrem Brautkleid in seinen Armen gestorben und gleich bei der ersten Begegnung
erzählte er Viridiana, wie sehr sie der Verstorbenen ähnlich sehe.
Die schlafwandelnde Viridiana muss ihm wie eine Wiederkehr seiner Braut erscheinen.
Wir sehen Don Jaime, wie er unter der Begleitung der religiösen Musik von
Mozarts Requiem die Brautschuhe seiner verstorbenen Frau und ihr Brautkleid
anprobiert, und es steht zu vermuten, dass er dies nicht zum ersten Mal tut.
Im Werk Buñuels finden wir noch öfters diese Figur des alleinstehenden
älteren Mannes, der fetischistischen Ritualen verfallen ist, ganz ähnlich
etwa im „Tagebuch
einer Kammerzofe“. Doch in „Viridiana“
wird dieser Fetischismus auf die Spitze getrieben.
Am letzten Abend vor Viridianas Abfahrt bittet der
Onkel sie um eine „unschuldige Sache“ („una cosa innocente“). Sie soll für
ihn das Brautkleid anziehen. Widerstrebend folgt Viridiana, doch sie möchte
der Situation wieder entfliehen. Ihr Onkel beschwichtigt sie und bringt sie
dazu, Tee zu trinken, in den seine Haushälterin Ramona vorher ein Betäubungsmittel
geschüttet hat. Dies alles geschieht wieder unter den Klängen religiöser
Choräle aus Don Jaimes Grammophon. „Beurteile mich nicht schlecht, ich
tue es nur, um sie näher zu haben“, sagt er zu Ramona. Dann legen die beiden
die betäubte Viridiana, die noch immer im Brautkleid ist, auf ihr Bett
und Don Jaime bleibt allein bei ihr zurück und drapiert sie wie eine Leiche.
Sein Gesicht arbeitet dabei in einer Mischung aller Gefühle von Zärtlichkeit,
Begehren und Entsetzen. Er nimmt sie in den Arm und küsst sie leidenschaftlich,
alles weiterhin mit der sakralen Musik im Hintergrund, er öffnet ihre Bluse,
küsst sie, schließt die Bluse wieder und läuft dann entsetzt
weg.
In dieser Szene inszeniert Buñuel eine untrennbare
Verquickung von Sexualität, Religiosität und Tod. Der Onkel liebt
in Viridiana seine verstorbene Braut und indem er Viridiana begehrt, begehrt
er eine Tote. Die katholische Moral mit ihren Geboten und Verboten zur Sexualität
führt nicht zu vorgeblicher Reinheit, sondern, indem die sexuellen Wünsche
unterdrückt werden, brechen sie ständig hervor. Die unterdrückte
Sexualität führt zu einer Übersexualisierung, alles wird sexuell
aufgeladen. Der ganze Film ist gefüllt mit sexuellen Anspielungen, sei
es der Griff eines Springseils, oder das Euter einer Kuh. In der Szene wo Viridiana
beim Melken das Euter der Kuh nicht anzufassen wagt, wird uns erst durch ihr
Zögern die Ähnlichkeit des Euters mit einem Penis bewusst. In dem
Unvermögen, die angestrebte Reinheit der Handlungen und Motive zu erreichen,
führt die Moral der beteiligten Personen nur zu Schuldgefühlen, was
letztlich in einen Teufelskreis mündet.
Die Ereignisse der Nacht werden kontrastiert in einer
Parallelhandlung. Die Zeremonie des Onkels wird von Rita, der vielleicht zehnjährigen
Tochter Ramonas durch ein Fenster beobachtet. Das Mädchen reagiert mit
Unverständnis, erzählt ihrer Mutter jedoch später, dass sie Angst
habe, da in ihrem Bett ein schwarzer Stier sei („un torro negro“). Buñuel
spielt hier mit der seit der Antike im ganzen Mittelmeerraum beheimateten Mythologie
des Stiers als eines Symbols von Kraft und Fruchtbarkeit. Gleichzeitig beinhaltete
dieser Kult in der rituellen Schlachtung des Stiers die Nähe zum Tod, was
in den spanischen Stierkämpfen bis heute fortlebt. Vom „Schwarzen Stier
des Leides“ spricht F. Garcia Lorca, ein Freund Buñuels in einem seiner
berühmtesten Gedichte.
Am nächsten Morgen erzählt Don Jaime seiner
Nichte, dass er in der Nacht mit ihr geschlafen habe und trägt ihr an,
sie zu heiraten, was Viridiana entsetzt zurückweist. Jetzt sagt Don Jaime,
dass er nichts getan habe, dass er nur vorgehabt hatte, die Situation auszunutzen,
was auch der Wahrheit entspricht. Er erhält keine Verzeihung von Viridiana,
die eilig zum Bahnhof flieht. Der Onkel fühlt eine zu große Schuld
und erhängt sich mit dem Springseil der kleinen Rita.
Im Gespräch mit der Oberin, erklärt Viridiana,
dass sie sich für den Tod des Onkels schuldig fühle und nicht in den
Konvent zurückkehren werde. Sie lädt eine Gruppe von Bettlern auf
das Anwesen ein, in der Hoffung diese und sich selbst durch Gebet und christliche
Nächstenliebe zu erlösen. Ein Heim für die Armen und Beladenen
will sie errichten. Die zynischen Bettler jedoch haben andere Vorstellungen.
Sie werden einer hässlicher als der andere gezeigt. Sie sind selbstsüchtig
und heuchlerisch und zeigen auch untereinander keinerlei Solidarität. Ihr
Umgang ist vielmehr durch ständige Streitereien und gegenseitige Ausgrenzung
geprägt. Sie heucheln Frömmigkeit gegenüber Viridiana und drücken
sich vor der Arbeit.
Daneben steht Jorge (Francisco Rabal), Don Jaimes
unehelicher Sohn, der aufs Gut zurückkehrt und sich wundert, dass sein
Vater ihn in seiner letzten Stunde endlich anerkannt habe. Jorge beginnt das
Anwesen zu modernisieren, er räumt auf, im wörtlichen und im übertragenen
Sinne. So findet er etwa ein Kruzifix seines Onkels, das zu einem Taschenmesser
aufgeklappt werden kann, und wirft es amüsiert zur Seite. Diese Szene erregte
damals in Spanien besonderen Aufruhr. Das Messer gab es aber wirklich überall
zu kaufen, nicht mehr jedoch nach dem Verbot des Films. Jorge ist die Kontrastfigur
zu Viridiana. Er wird als nüchtern, praktisch und illusionslos gezeichnet,
aber auch als gefühlskalt und rücksichtslos. Er nimmt kopfschüttelnd
zur Kenntnis, dass Viridiana statt einer Matratze ein Brett in ihrem Bett hat
und er bezeichnet sie als eine Frau ohne Blut in den Adern.
Eine Szene beleuchtet den Kontrast zwischen Viridiana
und Jorge besonders deutlich. Hier schneidet Buñuel zwei Geschehnisse
parallel: Einmal die Arbeiter Jorges, die mit Sägearbeiten und Mörtel
Mischen beschäftigt sind, zum anderen Viridiana und ihre Bettler, die das
Angelus beten. Die Schnittfolge zwischen den beiden Szenen wird immer schneller
und verdeutlicht den Gegensatz: Hier Viridiana mit ihrem illusionären Glauben
an die Erlösung durch Frömmigkeit inmitten ihrer faulen und heuchlerischen
Armen, dort die praktische Geschäftigkeit Jorges. Viridiana steht dabei
für unbedingten Idealismus, denn die Ehrlichkeit ihrer Motive wird nie
bestritten, Jorge repräsentiert einen realistischen Materialismus. Es bleibt
kein Zweifel, wem Buñuel hier den Vorzug zugesteht, denn Viridianas Ideal
ist von vornherein illusionär. Doch sollte man sich hüten, in Jorge
nun die rein positive Figur zu sehen. Buñuel deutet an, dass das aufgeklärte
Bürgertum, für das Jorge steht, zwar dem bigotten Feudalismus vorzuziehen
ist, dass damit aber längst kein Idealzustand erreicht ist. Jorge ist von
keinen Skrupeln belastet, er nimmt sich was das Leben bietet, wie etwa in der
Szene deutlich wird, wo er sich Ramona als Geliebte nimmt. Dieses Bürgertum
wird Buñuel in seinen späteren Filmen karikieren.
Als die Bettler einen Tag allein auf dem Anwesen sind,
dringen sie ins Herrenhaus ein und feiern dort eine Orgie. Sie holen das gute
Geschirr und kostbare Decken aus den Schränken, sie betrinken sich, streiten
und raufen. Geschirr wird zerschlagen und Wein verschüttet, alles zu den
Klängen von Händels „Hallelujah“ aus dem Grammophon. Eine der Bettlerinnen
bietet den anderen das Schauspiel, ihren Rock zu heben und sich vor ihnen zu
entblößen. Damit alle gut sehen können, drängen sie sich
auf eine Seite des Tisches und gruppieren sich dort in exakter Nachstellung
des berühmten Gemäldes „Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci.
Die Kamera friert dieses Bild zum Standbild ein. Der Vatikan fasste diese Szene
als die Provokation auf, als die Buñuel sie gemeint hatte. Einer der
Bettler kommt gar mit dem Brautkleid von Don Jaimes verstorbener Frau und posiert
darin vor den anderen. Als Viridiana und Jorge zurückkommen, werden sie
von zwei Bettlern überwältigt und einer versucht Viridiana zu vergewaltigen,
wird aber im letzten Moment von dem anderen getötet, dem Jorge Geld verspricht.
Viridiana ist nach dieser Nacht nicht mehr dieselbe.
Sie betrachtet sich in einer Spiegelscherbe, trägt ihre Haare jetzt offen
und geht - offensichtlich völlig desillusioniert - zu Jorge, der mit Ramona
Karten spielt und Rockmusik hört. Sie setzt sich wortlos zu ihnen und Jorge
bringt ihr das Kartenspielen bei, ein Spiel, das traditionell als Domäne
des Teufels gilt. Viridiana findet ihre Erlösung nicht, sondern sie akzeptiert,
dass Erlösung nicht existiert, dass ihre Schuld und Sünde vielleicht
nur eingebildet sind. Der Film endet so in einer Art menage à trois.
Im Hof brennt zeitgleich ein Feuer, in dem altes Gerümpel verbrennt und
in das auch die Dornenkrone vom Anfang des Films geworfen wird.
Was Buñuel dem Zuschauer in „Viridiana“ vorführt,
ist eine fundamentale Zurückweisung der katholisch-christlichen Moral und
zwar in ihrem innersten Kern. Im ersten Teil des Films bekommen wir demonstriert,
wohin die Verdrängung sexueller Wünsche die Menschen bringen kann,
wie Fetischismus und Schuldkomplexe daraus entstehen. Im zweiten Teil wird die
Lehre widerlegt, dass durch aufrichtige Nächstenliebe den Menschen geholfen
werden kann. Diese Kritik ist deshalb so tiefgehend, weil die Motive Viridiana
wirklich die aufrichtigsten sind. Sie ist ohne Lüge und will wirklich nur
das Allerbeste. Doch in der Realität entstehen daraus nur Missverständnisse
oder sie wird einfach ausgenutzt.
Die Bettler werden als gemein und selbstsüchtig
geschildert, doch wie sollten sie anders sein in einer Welt, die Bettler wie
sie hervorbringt. Das Elend in der Welt kann nicht durch ein bisschen Barmherzigkeit
beseitigt werden, solange die Strukturen von Macht und Gesellschaft die gleichen
bleiben. Buñuel macht dies in einer kleinen Szene augenfällig, wenn
Jorge einen Hund freikauft, der in tierquälerischer Art an einen Wagen
gebunden ist. Die nächste Einstellung zeigt uns nämlich einen weiteren
Bauernwagen, an dem ein Hund in genau gleicher Weise angebunden ist. Akte der
Barmherzigkeit sind bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein oder
sie machen die Situation nur noch schlimmer, wie im Fall der Bettler, die eben
nicht zufrieden und dankbar sind, wenn ihr Bettlersein etwas erleichtert wird,
sondern die die erste Gelegenheit nutzen, um die Herren zu spielen. Die Bettler
erscheinen so mit ihren Hierarchien als ein groteskes Spiegelbild der Gesellschaft,
nur dass ihre Gemeinheit durch keinerlei Konventionen gezügelt ist.
Die einzige Figur des Films, die noch völlig
unbelastet ist, ist das Mädchen Rita. Die Komplexe und Gemeinheiten der
Erwachsenen sind etwas, dem sie verständnislos gegenüber steht. Ganz
unbekümmert benutzt sie das verhängnisvolle Springseil wieder zum
Spielen, ohne etwas Frevelhaftes darin sehen zu können. Sie repräsentiert
gleichsam die Hoffnung, dass eine neue Generation einmal ohne die Deformationen
einer falschen Moral aufwachsen könnte. Buñuel macht dies anschaulich,
wenn er Rita vor dem Feuer zeigt, wie sie befremdet die Dornenkrone Viridianas
in den Händen dreht und sich daran sticht. Verärgert wirft sie die
Krone, das Symbol der bigotten Moral ins Feuer und lässt sie verbrennen.
Siegfried König
Dieser Text ist nur in der filmzentrale erschienen
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diesem Film gibt’s im archiv
mehrere Kritiken
Spanien/ Mexiko 1961, Regie: Luis Buñuel, Buch: Julio Alejandro und:
Luis Buñuel. Mit:
Silvia Pinal, Fernando Rey, Francisco Rabal, Margarita Lozano, Jose Calvo.
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