VON LIEBE UND SCHATTEN
Francisco (Antonio Banderas) reißt sich die Che-Guevara-Baskenmütze
vom Kopf. Irene (Jennifer Connelly) kämpft mit dem
Hyperventilationssyndrom: gerade haben sie die verwesenden Folteropfer
in der stillgelegten Mine entdeckt; doch vom Pinochet-Regime lassen sie
sich nicht einschüchtern: vorm Stolleneingang reißen sie sich die
Kleider vom Leibe und kopulieren auf Stock und Stein vor dem
Leichenberg zu gedämpftem Trommelwirbel. – Der Kampf gegen die
chilenische Militärdiktatur als Melodram und als Akt sexueller
Befreiung: eine Verhöhnung der Opfer? lsabel Allende, deren
gleichnamiger Bestseller hier verfilmt ist, ist die Nichte des
gestürzten und ermordeten chilenischen Präsidenten. Sie ist selbst
Betroffene, und womöglich hat sie die melodramatische Szene vor dem
Leichenstollen selbst erlebt, bevor sie nach Argentinien floh.
Autobiographisches und Fiktives vereinigen sich in ihrem Roman auf sehr
sinnliche Art, die im Film in sehr ungewöhnlicher Weise zwischen Kitsch
und Camp oszilliert und gelegentlich durchaus die Grenze zur Satire
erreicht.
Im Filmdialog wird über Kitsch und Camp philosophiert, und ich möchte
dazu einladen, anläßlich dieses Films, dem Regiedebüt von Betty Kaplan,
über die Methode einer Vergan-genheitsbewältigung nachzudenken, die von unten einsetzt, ziemlich
unrepräsentativ vom Einzelnen ausgeht und die Protagonisten nah und
wahr macht. Auf eine der deutschen Betroffenheitskultur völlig
abhandengekommene Methode verbreitet der Film statt Weh & Leid
strotzenden Optimismus. Und wenn es so ist, daß man zu diesem Zweck
durch Kitsch und Melodram hindurchmuß, dann nur zu. Ein
Vergangenheitsbewältigungsbestseller ist auch dann keine schlechte
Sache, wenn eine Frau auf diesem Wege lernt, sich sexuell zu befreien.
Denn Irene - und damit zurück zur Handlung...
Irene, von ihrer erzkonservativen Mutter (Stefania Sandrelli) mit
einem strammen Offizier verlobt, nämlich mit ihrem Vetter Gustave
(Camilo Gallardo), findet körperliche Entspannung lediglich bei
bizarren Spielen, -einer Art Uniform-Sex. Doch die pseudomilitärischen
Liebesrituale füllen sie nicht gänzlich aus. In der Redaktion des
Hochglanz-Modemagazins öffnet sie sich dem neuen Arbeitskollegen, dem
Fotografen Francisco, Sohn eines spanischen Anarchisten. Dieser öffnet
ihr auch die Augen für die nicht-hochglänzenden Seiten der
Militärdiktatur. Beide recherchieren das Schicksal einer verschwundenen
Wunderheilerin, die vor ihren Augen mit übernatürlichen Kräften einen
bösen Offizier in den Schweinekot geworfen hatte. Das Beweismaterial
kann gerade noch rechtzeitig gefaxt und über die Kirche der
internationalen Presse zugänglich gemacht werden. Dann gelingt beiden
die Flucht hoch über die Anden nach Argentinien. Dräuend stechen die
zackigen Gipfel in den roten Abendhimmel. „Goodbye, Chile!", ruft es im
Dialog, und im Nachsatz erfahren wir, daß nach Jahren ein Wiedersehen
möglich war, nach dem Sturz der Diktatur.
Ich hoffe, daß dieser Plot niemanden vom Filmbesuch abhält. Denn es
geht nicht um diese Geschichte, sondern um den Gesang, den lsabel
Allende und Betty Kaplan anstimmen - und der ist mehr als das Libretto.
Statt des revolutionären Leben-oder-Sterben geht es den Autorinnen um
Lachen-oder-Weinen, was jedenfalls bei mir den Intensiveffekt hatte,
daß das eine Auge lachte, das andere weinte. Nachdem ich, zugegeben
erst nach einigen Filmminuten, dann aber erleichtert, bemerkt hatte,
daß niemand von mir erwartete, zu politisch und pädagogisch korrekten
Bewältigungssätzen zustimmend mit dem Kopf zu nicken, folgte ich mit
den angedeuteten gemischten, also reichen Gefühlen den munteren
Bewegungen der nahen und sich an allem Bunten erfreuenden Kamera, -
solange das bürgerlich-bizarre Ambiente dazu einlud. Die faschistische
Schattenseite tendierte dagegen erwartungsgemäß Richtung Schwarzweiß;
die Einstellungen wurden deutlich länger; Gelegenheit wurde genug
geboten, hinter dem abbröckelnden Putz der düsteren Amtsgebäude die
Spuren des einst intakten Staatswesens wahrzunehmen. In diesen Bildern
werden die Gerichtsgebäude selbst kriminell. Die Regisseurin, dem Thema
keineswegs fremd (zuvor hatte sie in Alan Landsbergs IN SEARCH OF
JOSEPH MENGELE Second-Unit-Regie geführt), weiß, was sie will und sagt
dies in ihren Bildern sehr klar und deutlich, ja geradezu handfest.
Auch vor den Gerichtsmauern weicht die Kamera nicht in die Illustration
aus, denn es geht ja im Text um die Kriminalisierung der Bauernsöhne
durch die Diktatur. Wir wären bei der Diskussion des Falles LACOMBE
LUCIEN (Louis Malle, 1974), wenn der Blick nicht wieder auf nestelnde
Finger fiele, der Puls schneller schlüge, bzw. das Herz hörbarer
pochte, der Atem keuchte und das Melodram in Erwartung des
Abschlußkusses seine eigenen Gesetze durchsetzte.
Dietrich Kuhlbrodt
Diese Kritik ist zuerst erschienen in:
VON LIEBE UND SCHATTEN
DE AMOR Y DE SOMBRA Argentinien/Spanien 1994. R: Betty Kaplan. B: Donald Freed
(nach dem Roman von lsabel Allende). P: Richard Goodwin, Paul Mayersohn, Betty
Kaplan. K: Felix Monti. Sch: Kathryn Himoff, Bill Butler. M: Jose Nieto. T: Jose
Luis Diaz. A: Abel Faccello, Dolores Ezcurra. Ko: Beatriz de Benedetto. Pg: Aleph
Producciones/Tesauro. V: Connexion/Impuls. L: 110 Min. St: 6.10.1994. D: Jennifer
Connelly (Irene Beltran), Antonio Banderas (Francescol, Stefania Sandrelli (Beatriz),
Diego Wallraff (Jose), Camilo Gallardo (Gustavo Morante), Patricio Contrerras (Mario),
Jorge Rivera Lopez (Professor Leal), Angela Ragno (Hilda Leal).