Warum
läuft Herr R. Amok?
„Warum
läuft Herr R. Amok?"ist eigentlich die falsche Frage. Umgekehrt, denkt
man, wenn man diesen Film gesehen hat: Warum tun es die anderen eigentlich nicht?
Die Ausschnitte aus Herrn Raabs Leben, die wir zu sehen bekommen, nehmen uns
den Atem. Was geschieht, ist nichts als das Alltäglichste, Normalste. Die
Menschen, deren Dialogen wir lauschen, sind nichts als Durchschnittsbürger,
so deutsch wie man nur sein kann, von einer Verlogenheit und Bösartigkeit,
die nur zu vertraut ist. Der Film ist außerordentlich milieusicher und
es gelingt Fassbinder (und seinem Coautor und -regisseur Michael Fengler), auf
einem schmalen Grat der Zuspitzung des Normalen zu balancieren, der dennoch
von jeder Karikatur der Verhältnisse entfernt bleibt.
Kommentarlos,
wie in einem Theaterstück, werden Szenen aufgeführt: im Architekturbüro,
wo Herr Raab arbeitet, mit Kollegen im Auto, eine kleine Feier, die mit einem
peinlichen betrunkenen Auftritt Raabs endet, Szenen einer Ehe, in der sich die
Partner nicht viel zu sagen haben, ein Sonntagsausflug mit Raabs Eltern, der
in wenigen Minuten das Grauen dieses Rituals ebenso einfängt wie die Boshaftigkeit
der Schwiegermutter, die sich langsam, aber sicher hinter scheinheiliger Jovialität
hervorwagt. All das ist millimetergenau beobachtet und grandios gespielt von
den Darstellern, die über weite Strecken ihre Dialoge improvisieren. Aus
Herrn R. wird man dabei nicht schlau. Meist schweigt er zu dem Müll, den
die Leute reden, dann schwelgt er in Erinnerungen mit seinem Bruder und ignoriert
das Desinteresse seiner Frau, dann ist er der geduldige Vater, dann der frustrierte
Angestellte, mal verstockt, mal bricht etwas aus ihm heraus. Er scheint tief
gekränkt, aber von einer Existenz, gegen die er nichts in der Hand hat,
von einer verfahrenen Situation, aus der er keinen Ausweg findet als den denkbar
brutalsten.
Der
Film konzentriert sich auf wenige Schauplätze: das Büro, das Auto,
die Couch im Wohnzimmer. Letztere wird zum zentralen Ort und Tatort des Films.
Hier wird das Personal in immer neuen Konstellationen versammelt, was sich nicht
ändert, ist die unter der Decke von Small Talk und dem dünnen Anschein
von Freundlichkeit gehaltene Unsicherheit der Personen, die jederzeit in Gemeinheit
umschlagen kann. Dietrich Lohmanns bewegliche Kamera nähert sich den Figuren,
folgt ihnen, aber nie zu dicht, schweift eher wie ein natürlicher, aber
nicht aufdringlicher Blick. Der Gesamteindruck bleibt der eines uninszenierten
Naturalismus, den hinzukriegen keine kleine Kunst ist. Ein wahres Wunder ist
es, wie die Darsteller - und Kurt Raab zuallererst - auf alle Schauspielerei
verzichten und im Verbund mit der bewussten Nicht-Inszenierung der Szenen eine
Suggestion von Authentizität erzeugen, die einen Abstand zum Gezeigten
nicht zulässt.
Ekkehard
Knörer
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Warum
läuft Herr R. Amok?
Deutschland
1970, 84 Minuten
Regie:
Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler
Drehbuch:
Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler
Musik:
Peer Raben, Joachim Heider („Geh’ nicht vorbei”)
Kamera:
Dietrich Lohmann
Schnitt:
Rainer Werner Fassbinder
Produktionsdesign:
Kurt Raab
Darsteller:
Lilith Ungerer (Frau R.), Kurt Raab (Herr R.), Lilo Pempeit (Kollegin im Büro),
Franz Maron (Chef), Harry Baer (Kollege im Büro), Peter Moland (Kollege
im Büro), Hanna Schygulla (Schulfreundin), Ingrid Caven, Irm Hermann, Doris
Mattes (Nachbarinnen), Hannes Gromball (Nachbar), Vinzenz Sterr (Opa Raab),
Maria Sterr (Oma Raab), Peer Raben (Schulfreund), Eva Pampuch, Carla Egerer
(Verkäuferinnen im Schallplattengeschäft), Hanna Axmann-Rezzori (Lehrerin),
Peter Hamm (Kommissar), Amadeus Fengler (Sohn der R.s)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0066546
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