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Warum
läuft Herr R. Amok?
Warum
läuft Herr R. Amok? –
Ein Film als Antwort auf die im Titel gestellte Frage. Wir entnehmen dem Filmtitel,
was passieren wird und die Frage ist eine Aufforderung an den Zuschauer für
das angekündigte Desaster eine Erklärung zu finden. Fassbinder und
Fengler hätten ihren Film auch „Chronik eines Amoklaufes“ o.ä. nennen
können, ohne Bezugnahme auf die Hauptfigur und ohne explizite Anregung,
die Motivation für den Amoklauf zu erhellen. Wir haben aber beides, und
sollten uns folglich aufmachen, Herrn R. und die fragmentarischen Episoden aus
seinem Leben genauer in Augenschein zu nehmen.
Der
Film hat keine Handlung in dem Sinne, dass eine abgeschlossene Geschichte erzählt
wird. Hier geht es nicht um Menschen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, dabei
auf Schwierigkeiten stoßen und diese dann meistern oder nicht. Es geht
hier nicht um Menschen, die durch ihre Persönlichkeit dem Lauf der Dinge
neue, einschneidende Wendungen verleihen. Wir finden hier keinen Spannungsbogen,
wie er für gewöhnlich in abgeschlossenen Geschichten zu finden ist.
Der Film enthält keine redundanten Szenen derart, dass diese die Kontinuität
der Handlung gewährleisten ohne zu der eigentlichen Thematik beizutragen.
Fassbinder und Fengler beschränken sich auf Ereignisse, die für R’s
Amoklauf wesentlich sind, insofern sie gleichsam wie einzelne Tropfen das Fass
am Ende zum Überlaufen bringen. Die Situationen, in denen wir R erleben,
zeigen nichts anderes als die banalen Erfordernisse des Alltags; für sich
genommen unbedenklich, tritt die Schwere all dessen erst in der Gesamtheit aller
Szenen hervor.
R ist
ein Mensch, wie wir ihn allenthalben antreffen: er lebt eine Standardbiographie,
er hat eine Frau, einen Sohn, bewohnt eine gewöhnliche Mietwohnung und
arbeitet als Angestellter in einem Büro. Fassbinder und Fengler präsentieren
uns Episoden aus dem Alltag von R, die jedermann vertraut sind: belangloses
Parlando mit den Kollegen, die vom Abhängigkeitsverhältnis zwischen
(disziplinarischem) Vorgesetzten und Untergebenen geprägte Unterredung
mit dem Chef, der Dialog mit seiner Frau, der Besuch seiner Eltern, der Austausch
mit den Nachbarn, ... Situationen, die sich im Leben eines jeden wiederfinden.
Das Aneinanderreihen solch profaner Gegebenheiten lässt den Film spröde
erscheinen – spröde wie das Leben, das er abbildet.
Gegenüber
dem redundanzfreien Aufbau der Darstellung – keine Szenen, die nichts zur Thematik
des Films zutun – finden wir bezüglich R’s vita eine Inversion dieses Verhältnisses:
Nahezu jeder Ausschnitt aus dem Leben von R gibt Einblick in ein Leben ohne
erkennbaren Wert. Nimmt man die Ausschnitte als Summanden eines Betrages bleibt
unter dem Strich die Nullsumme. R’s Leben ist nichts als eine redundante Angelegenheit.
Was
könnte R nun veranlassen, am Ende des Films die Kontrolle zu verlieren
und seine Frau, seinen Sohn und deren Nachbarin zu erschlagen? Die Frage im
Titel des Films lässt zumindest zwei Lesarten zu, je nach Betonung der
Satzteile: „Warum
läuft
Herr R.
Amok?“
und „Warum läuft Herr
R. Amok?“.
Im ersten
Fall konzentrieren wir uns von Beginn an auf R und versuchen die Motive für
seinen Kontrollverlust
zu ergründen. Im zweiten Fall wird vorausgesetzt, dass die Umstände
einen Amoklauf der involvierten Personen provozieren und es fragt sich dann,
warum ausgerechnet R und nicht irgendein anderer der Beteiligten zum finalen
Befreiungsschlag ansetzt. Tatsächlich laufen beide Interpretationen der
Frage auf die gleiche Antwort hinaus.
Wir
lernen R im Laufe des Films als einen ruhigen Menschen, ja geradezu farblosen
Zeitgenossen kennen, der dem Leben eher passiv gegenübersteht und seinen
Mitmenschen gutwillig entgegentritt. R tut sich durch nichts Besonderes hervor,
er lässt keinerlei Talente erkennen. Wenngleich er den anderen wohlmeinend
begegnet, geht diese Haltung doch nicht mit verbaler Aufgeschlossenheit einher.
Wir
erhalten keinen unmittelbaren Einblick in R’s Innenleben.
Weder
durch Kommentare aus dem Off, noch durch seine Gespräche mit seinen Mitmenschen
erfährt man von R, wie seine Umwelt, sein Leben auf ihn wirkt. Wir erfahren
das erst am Ende. Es zeichnet sich keine sichtbare Entwicklung ab, die einen
Ausbruch, wie er uns am Schluss überrascht, erahnen lässt. Erst in
der Rückschau erschließt sich das Verhalten von R, eingedenk Kierkegaards
Mahnung: Life can only be understood backwards, but it must be lived forwards.
Im Rückblick
verrät uns R den Grund für seine Entgleisung. Vor dem Hintergrund
aller anderen Szenen offenbart R in einem kurzen Moment eine Haltung, die ihn
von allen anderen Figuren des Dramas unterscheidet. Die Szene, von der hier
die Rede ist, zeigt R und seine Frau im Gespräch mit deren ehemaliger Schulfreundin,
einer nach R’s Maßstab und dem aller übrigen Figuren des Films unangepassten
Frau. Nachdem man sich über die unterschiedlichen Lebenswege ausgetauscht
hat und auf den eher unkonventionellen Lebensstil der Freundin zu sprechen kommt,
entspinnt sich folgender Dialog:
R’s
Frau: „Ich mein’, bei uns ist zwar alles geregelt und so, aber, ich glaub’,
spießig sind wir
nicht,
oder?“ (Diese Frage richtet sie direkt an R).
R
darauf: „Nein, aber auch nicht ... (bricht ab). Ich weiß nicht wie das
Gegenteil ist.“
Freundin:
„Etwas merkwürdiges Gespräch, finde ich.“
R:
„Schauen Sie mal, Sie sind natürlich frei. Sie können sich auch frei
äußern, Sie können sich
kleiden
wie Sie wollen ... Sehen Sie mal, bei uns ist das so, meine Frau z.B. könnte
nicht so
rumlaufen.
Wir haben gewisse Verpflichtungen, wir haben engen Kontakt mit meinem Chef
und
so. Vielleicht verstehen Sie das nicht ganz und wollen das vielleicht auch nicht
verstehen.“
...
R’s
Frau scheint sich angesichts der eigensinnigen Lebensart ihrer Freundin für
die eigene entschuldigen
zu müssen und tut dies, indem sie sich mit Überzeugung von einer Haltung
freispricht, mit der sich niemand gern stigmatisiert sieht: Spießigkeit.
Welche Eigenschaften man mit Spießertum auch verbindet, eins ist jedem
Spießer zu eigen: die feste Überzeugung, selbst kein Spießer
zu sein. In die vermeintliche Defensive gedrängt, fordert R’s Frau Schützenhilfe
von ihrem Mann, der jedoch nicht wie erwartet reagiert. Und an dieser Stelle
kommt der entscheidende Moment des Films. Anstatt sich mit unerschütterlicher
Überzeugung von dem Malum des Spießertums abzugrenzen, reflektiert
er über die eigene Position in dieser Sache ohne den Gegenentwurf zum Spießer
expressis verbis dingfest machen zu können.
„Ich
weiß nicht wie das Gegenteil ist“ – mit
diesem Bekenntnis offenbart R den geringsten Abstand von der dogmatischen Selbstsicherheit
des Spießers, der möglich ist.
R verfügt über kein Wissen von den begrifflichen Verhältnissen,
die das Spießertum und dessen Gegenwelt kennzeichnen. Er ist lediglich
von einem leisen Zweifel über die eigene Zuordnung in dieser Kategorisierung
befallen. Wie heißt es doch? Der Zweifel ist das Wartezimmer der Erkenntnis.
Das
Gespräch mit der Freundin seiner Frau ist der Dreh- und Angelpunkt des
Films. Ohne diese Szene
wäre völlig unverständlich, warum R am Ende des Films plötzlich
Amok läuft. Man wäre auf bloße Vermutungen angewiesen. Die Freundin
von R’s Frau ist die einzige Figur im Film, die R aufgrund ihrer unkonventionellen
Art Anlass gibt über das Leben bewußt zu reflektieren. Darin liegt
ihre eigentliche Funktion im Film.
Einen
ersten Hinweis für R’s singuläre Stellung findet man bereits in der
Eröffnungsszene, wo R und seine Kollegen zu Dienstschluss kalauernd
das
Büro verlassen (R ist der einzige der vier, der keinen Kalauer zum Besten
gibt). Diese Eröffnung ist klug gewählt. Man erfährt bereits
sehr viel über einen Menschen, wenn man weiß, worüber er lacht.
Es ist eine Erfahrungstatsache, dass Menschen, die sich an Kalauern ergötzen,
keinerlei Neigung zur Selbstironie mitbringen. Ironie untergräbt bekanntlich
jeden Absolutheitsanspruch in Fragen der Lebensführung und Lebensbedeutung
und spielt vielmehr mit den Deutungsmöglichkeiten der Lebensvollzüge.
Die
Figur des R ist geradezu genial konzipiert: er
lässt das Minimum an Zweifel über den Absolutheitsanspruch
in Fragen der Lebensführung und Lebensbedeutung erkennen, das hinreichend
ist, um die Welt, in der er lebt, (auf Dauer) nicht ertragen zu können.
Hätten
Fassbinder und Fengler R etwa als Künstler, Schriftsteller, Avangardisten
oder Querdenker angelegt, hätte der Film längst nicht die Brisanz,
die ihm so zukommt. In dem Fall hätte man gesagt: kein Wunder, dass R durchdreht,
aber wer ist schon so ein Freigeist?
So erfasst
die Darstellung jeden, der aus Zweifel an dem Platz, den er im Leben einnimmt,
in Distanz zu sich selbst und zu den Dingen zu tritt und so Einsicht in die
Endlichkeit und Begrenztheit der Bahnen erhält, in denen das Leben verläuft.
R markiert genau den Übergang von demjenigen, der seine (kontingente) Position
in der Gesellschaft verabsolutiert und dessen Identität sich darin erschöpft,
zu dem Menschen, der seinen sozialen Status in der Vielfalt der Lebensvollzüge
als Rolle begreift. R’s Zweifel an der Identität von Rolle und Person exponiert
ihn und bringt so Einsamkeit und Isolation mit sich; obwohl er nahezu permanent
von Menschen umgeben ist, ist R allein. Jeder, der jemals in dieser Situation
war, weiß, dass dies schlimmer zu ertragen ist als nur räumlich isoliert
zu sein.
Der
maßgebliche Unterschied zwischen den beiden Haltungen manifestiert sich
im Selbstverständnis und im Umgang mit anderen. Bezogen auf diese Dichotomie
besteht die Spießigkeit der anderen in dem Unvermögen, gegenüber
der eigenen Position in Familie, Beruf und Gesellschaft eine selbstkritische
und selbstironische Haltung einzunehmen. R’s Mitmenschen sind ihren Rollen,
ihren Positionen im sozialen Gefüge verhaftet und sie
sind sich dessen nicht bewusst.
Dies wird auf zwei Weisen offenbar: zum einen geht ihre Identität vollständig
in
ihrer sozialen und vor allem beruflichen Position auf, zum anderen ist ihr Umgang
mit ihren Mitmenschen ausschließlich
durch
die Stellung bestimmt, die diese in ihrem gesellschaftlichen Umfeld einnehmen:
R’s Mutter bemisst R’s Frau unentwegt an ihrer Vorstellung davon, welchen Ansprüchen
eine Schwiegertochter zu genügen hat.
R’s Frau lässt keine Gelegenheit aus, R in Erinnerung zu rufen, dass er seiner Rolle als Ernährer der Familie Genüge zu tun hat und an ihm der soziale Status der Familie hängt. Die Nachbarn, die mit penetranter Neugier und unverhohlener Missgunst bei Kaffee und Kuchen R’s Familienverhältnisse sezieren - und natürlich R’s Stellung als technischer Zeichner im Büro eines Architekten. Die Entscheidung Fenglers und Fassbinders, R in einem Büro anzusiedeln ist sicherlich kein Zufall. R hätte ja genauso gut als Goldschmied, Florist, Elektriker oder Klempner tätig sein können. Im Büro sind jedoch genau die Bedingungen gegeben, die den Nährboden für R’s Tragödie bilden: eine hierarchische Struktur als Grundlage für die soziale Positionierung, die Arbeitsleistung resp. Stellung in der Hierarchie als Vergleichskriterium mit dem Nächsten (sprich: Kollegen) und schließlich die Firma als identitätsstiftende Einrichtung, ja, im Extremfall Vermittler des Lebenssinns. Die schlichte Tatsache, dass hier jeder sich selbst der nächste ist, ist gepaart mit der Illusion, dass ein von bloßer Zweckmäßigkeit bestimmtes arbeitsteiliges Handeln Menschen bereits zu Freunden macht, kurz gesagt, der Kollege gilt als Freund. Das es damit nicht weit her ist, wird während der Mitfahrt R’s bei einem Kollegen offenbar: nach einem kurzen Austausch über ein besseres Jobangebot für den Kollegen kommt dieser auf die Sekretärin Frau Eder zu sprechen, genau gesagt, er fängt an, sich abfällig über sie zu äußern (R stimmt in diesen Tenor nicht mit ein!). Jeder weiß, dass dieses Schicksal sehr wahrscheinlich auch R blühen würde, wenn der besagte Kollege mit einem anderen Angehörigen des Architekturbüros unterwegs wäre. Zur Gänze tritt dieser Geist in der Schlussszene hervor: Als die Polizei R’s Arbeitskollegen im Büro nach ihrer Beziehung zu R fragt, verleugnen sie ihn kurzerhand. Sein Chef gibt gar die Meldung der Polizei, seine Frau, seine Nachbarin und sein Sohn seien tot aufgefunden worden mit den Worten weiter, R habe diese umgebracht.
Um die
Vermutung zu untergraben, dass R’s dubitativer Habitus höhere kognitive
Fähigkeiten zur Voraussetzung haben müsse, hebt er sich nur
darin
von den anderen ab, kein vor Zweifeln immunisiertes
Selbstbild vor sich her zu tragen, ja, er ist seinen Mitmenschen in Sachen Bildung,
Intelligenz und Eloquenz unterlegen: Seine Frau hat mehr Sinn für Kunst
und Kultur, seine Kollegen sind leistungsfähiger als er und kein anderer
hat solche Probleme wie R sich zu artikulieren ...
Fassbinder
und Fengler nehmen gar eine Umordnung der Qualitäten vor und demonstrieren
so, dass die gängigen Insignien, welche nach üblicher Vorstellung
den Spießer und seine Gegenwelt konstituieren, nicht die eigentliche Kategorisierung
ausmachen: R ist mit dem Kanon an Attributen ausgestattet, die man sonst mit
der Figur des Spießers in Verbindung bringt: er ist ordentlich, gewissenhaft,
gehorsam, pflichtbewusst, ... und dies in gleichem Maße wie seine Mitmenschen.
Und doch ist er der einzige in der Tragödie, den man vom Spießertum
ausnehmen kann.
Bei
näherer Betrachtung zeigt sich, dass R’s Verhalten, das ihn auf den ersten
Blick als vermeintlichen Spießer brandmarkt, von außen auferlegten
Zwängen entspringt (Denen er sich sehr wohl bewusst ist! „Schauen Sie mal,
Sie sind natürlich frei...“ konzediert er etwa der Freundin seiner Frau,
in der Gewissheit, dass dies für ihn nicht gilt; weniger offensichtlich,
aber nicht weniger eindringlich gibt R dies auch bei der Hausaufgabenhilfe seines
Sohnes zu erkennen: als dieser die Geschichte eines Adlers erzählt, der
in der Gefangenschaft in Trauer verfällt und in Freiheit aufblüht,
verliert sich sein Blick eingedenk der Parallelen zum eigenen Dasein).
In ihren
Rollen erstarrt, entwickeln sich die anderen Figuren nicht. Sie folgen selbstzufrieden
den völlig
monotonen Anforderungen des Alltags und prägen damit zugleich diese Lebensweise.
Eingebettet
in diese zementierte Kulisse ist R’s Leben von einer unerträglichen Gleichförmigkeit
gekennzeichnet;
nichts steht in Aussicht, was seine Mühsal lohnend machte – und es gibt
keinen Ausweg. Er führt ein Leben ohne Perspektive. Man erwartet nur, dass
er funktioniert. Alle
Menschen, die ihm nahe stehen, nötigen R permanent existentielle Bewährungsproben
auf, denen er nicht gewachsen ist. So ist die Hoffnung bzw. Erwartung von R’s
Familie auf eine Beförderung nicht von dem Willen um R’s Wohlergehen getrieben,
sondern beruht allein auf Statusdenken, getrieben von der Sorge um den eigenen
Status,
sprich das Bild der Familie. Man denke nur an die Vorwürfe von R’s Frau
auf der Betriebsfeier. Der Wert des Menschen wird an seiner Arbeitsleistung
bemessen. Karrierebewusst, leistungsbejahend und ehrgeizig, das sind die Attribute,
die von R erwartet werden.
Er ist
nicht in der Lage, diesen Anforderungen gerecht zu werden, was bei ihm ein permanentes
Gefühl
der Unzulänglichkeit zeitigt. Man erinnere sich an das leichte Versteinern
seiner Mimik beim Besuch der Eltern als das Gespräch auf seine Beförderung
kommt und seinen verlorenen, leicht gequälten Blick während des Berichtes
der Lehrerin über die Leistungsschwäche seines Sohnes. R ist von dem
Wunsch erfüllt, einfach nur Mensch zu sein und auch als solcher wahrgenommen
und akzeptiert zu werden (etwa während des Besuches eines alten Schulfreundes),
wohingegen seine Mitmenschen mit ihren sozialen Positionen gleichsam verwachsen
sind und ihm jene zweckfreie Zuwendung nicht entgegenbringen. Für sie existiert
diese Dimension überhaupt nicht; sie sind nicht in der Lage zunächst
nur
den Menschen wahrzunehmen und – wenn überhaupt - erst in zweiter Linie
dessen gesellschaftliche Einordnung in Erfahrung zu bringen und zu bewerten.
Sie haben gegenüber dem Leben eine (unbewusst) relative Haltung, die auf
(vor)gegebene Lebenswelten folgt und (dadurch) die jeweiligen kontingenten Verhältnisse
verabsolutiert. Während die anderen Figuren des Films also das Leben schlechthin
mit der täglichen Lebenspraxis (unbewusst) gleichsetzen, manifestiert sich
in R durch die Rückbesinnung auf sein Dasein eine dumpfe, unartikulierte
Ahnung, dass das Leben als solches über die tägliche Lebenspraxis
hinausweist. Er ist zwar in der Lage, dies zu erkennen, aber nicht fähig,
sich daraus zu befreien.
Aus
dieser für R unauflösbaren Differenz erwächst ein Leidensdruck,
der sich am Ende des Films auf bekanntem Wege entlädt.
Dass
die abgebildeten Verhältnisse keine bloße Konstruktion Fassbinders
und Fenglers sind, belegt die Reaktion der Zuschauer. R’s Arbeit im Büro
liefert hier ein prägnantes Beispiel: Über sein Zeichenbrett gebeugt
zeichnet er am Grundriss eines Hauses. Fassbinder und Fengler halten minutenlang
mit der Kamera auf diese Szene; es gibt keine Dialoge, es herrscht Sprachlosigkeit.
Wir sehen R und seine Kollegen in der Monotonie und Stupidität einer inhaltsleeren
Tätigkeit gefangen. Die Szene ist erfüllt von einer nervtötenden
Geschäftigkeit, die es einfach nur durchzuhalten gilt – bis zum Feierabend.
Das
belastende Moment dieser Arbeit liegt nicht in einem hohen Arbeitsvolumen oder
terminlich bedingtem
Stress, sondern dem bloßen mechanischen Vollzug, der jede Inspiration
tötet und in seiner Eintönigkeit zermürbt.
Bei
den Zuschauern scheiden sich hier die Geister: Die einen fragen nach dem Sinn
dieser Sequenz: „R und seine Kollegen sind bei der Arbeit – na und?“, die anderen
wenden sich mit Grausen. So findet unter dem Publikum des Films die gleiche
Teilung statt wie im Film: Der vom Bewusstsein um die Endlichkeit und Begrenztheit
der Lebenswelten geleitete Betrachter auf der einen Seite, der Rest der Zuschauer
auf der anderen.
Aus
dem Amoklauf einer Figur wie R folgt a
fortiori,
dass jeder, der sich über die Tyrannei der Rollen erhebt, mindestens so
sehr als Kandidat für eine vergleichbare Entladung in Frage kommt wie R.
Dieser
Text ist nur erschienen in der filmzentrale
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Warum
läuft Herr R. Amok?
Deutschland
1970, 84 Minuten
Regie:
Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler
Drehbuch:
Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler
Musik:
Peer Raben, Joachim Heider („Geh’ nicht vorbei”)
Kamera:
Dietrich Lohmann
Schnitt:
Rainer Werner Fassbinder
Produktionsdesign:
Kurt Raab
Darsteller:
Lilith Ungerer (Frau R.), Kurt Raab (Herr R.), Lilo Pempeit (Kollegin im Büro),
Franz Maron (Chef), Harry Baer (Kollege im Büro), Peter Moland (Kollege
im Büro), Hanna Schygulla (Schulfreundin), Ingrid Caven, Irm Hermann, Doris
Mattes (Nachbarinnen), Hannes Gromball (Nachbar), Vinzenz Sterr (Opa Raab),
Maria Sterr (Oma Raab), Peer Raben (Schulfreund), Eva Pampuch, Carla Egerer
(Verkäuferinnen im Schallplattengeschäft), Hanna Axmann-Rezzori (Lehrerin),
Peter Hamm (Kommissar), Amadeus Fengler (Sohn der R.s)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0066546
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