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Warum läuft Herr R. Amok?
Das alltägliche Leben einer durchschnittlichen
Familie: Herr Raab (Kurt Raab) ist technischer Zeichner, seine Frau (Lilith
Ungerer) hütet zu Hause das einzige Kind, einen Jungen (Amadeus Fengler).
Den Abend verbringt das Ehepaar mit Fernsehen, das Wochenende mit Spaziergängen
oder im Plausch mit den Eltern von Kurt (Herr und Frau Sterr). Aber das Leben
hat kleineSchönheitsfehler: Herrn R.s erhoffte Verbesserung im Beruf läßt
auf sich warten, der Sohn hat Schwierigkeiten in der Schule, der Arzt findet
(allerdings belanglose) gesundheitliche Schäden, und überhaupt wirkt
Herr Raab, der unter Koplschmerzen leidet, oft etwas geistesabwesend. Nur als
ein Schulfreund (Peer Raben) zu Besuch kommt, lebt er auf: Gemeinsam singen
sie Kirchenlieder, mit denen sie als Kinder traktiert wurden. Am Ende erschlägt
Raab seine Frau, eine Nachbarin (Irm Hermann), die gerade zu Besuch ist, und
seinen Sohn mit einem schweren Leuchter. Er selbst erhängt sich am nächsten
Morgen im Betrieb auf der ToiIette.
Ein böser Film, penetrant alltäglich. Die Dialoge, von den
Darstellern improvisiert (Fassbinder und Fengler skizzierten nur die Umrisse
der Szenen), sind von so banaler Durchschnittlichkeit, daß allein das
Zuhören fast Schmerzen bereitet. Der Film ist schon unerträglich ohne
sein Ende, wozu die ausgelaugten Farben beitragen. Er macht spürbar, wie
unnormal dieses scheinbar so normale bürgerliche Leben in seinem immer
gleichen Trott ist.
Fassbinder und Fengler suchen keinen Schuldigen, weder die Gesellschaft noch der einzelne wird für das Desaster haftbar gemacht. Gewisse Unterdrückungsmechanismen allerdings werden deutlich (die kleinbürgerliche Herkunft von Raab - seine Frau ist was »Besseres«; die Erziehung im Internat; die mangelnde Anerkennung im Beruf). »Solche Einsichten gehen einem runter wie eine fette Schlagzeile oder - seriöser - eine Meldung aus dem Polizeibericht« (Alf Brustellin, Süddeutsche Zeitung 9.2.1971). Was den Film so trostlos macht, ist nicht nur sein Inhalt, sondern auch seine ästhetische Methode Die Stilisierung der anderen Filme, die Künstlichkeit der Sprache, die Ritualisierung der Gesten, ist in AMOK, der nicht wie ein Fassbinder-Film aussieht, in eine Fetischisierung der Wirklichkeit umgeschlagen. Die Darsteller, so bewundernswert sie improvisieren, letztlich bringen sie nichts anderes zustande als eine Verdoppelung der Realität. Jede Szene dauert so lange, wie sie auch in Wirklichkeit dauern würde, Wenn es einen naturalistischen Film gibt, dieser ist es. Ihm fehlt jedes utopische Element, jede Idee, wie ein menschenwürdigeres Leben aussehen könnte.
Wilhelm Roth
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Rainer Werner Fassbinder; Band 2 (5. Auflage) der (leider eingestellten) Reihe
Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek
von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien
1985, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung
des Carl Hanser Verlags und des Autors Wilhelm Roth.
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Warum
läuft Herr R. Amok?
Deutschland
1970, 84 Minuten
Regie:
Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler
Drehbuch:
Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler
Musik:
Peer Raben, Joachim Heider („Geh’ nicht vorbei”)
Kamera:
Dietrich Lohmann
Schnitt:
Rainer Werner Fassbinder
Produktionsdesign:
Kurt Raab
Darsteller:
Lilith Ungerer (Frau R.), Kurt Raab (Herr R.), Lilo Pempeit (Kollegin im Büro),
Franz Maron (Chef), Harry Baer (Kollege im Büro), Peter Moland (Kollege
im Büro), Hanna Schygulla (Schulfreundin), Ingrid Caven, Irm Hermann, Doris
Mattes (Nachbarinnen), Hannes Gromball (Nachbar), Vinzenz Sterr (Opa Raab),
Maria Sterr (Oma Raab), Peer Raben (Schulfreund), Eva Pampuch, Carla Egerer
(Verkäuferinnen im Schallplattengeschäft), Hanna Axmann-Rezzori (Lehrerin),
Peter Hamm (Kommissar), Amadeus Fengler (Sohn der R.s)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0066546
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