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Was
lebst du?
Begegnung mit Jugendlichen
aus der "Parallelgesellschaft"
Der Titel von Bettina Brauns Dokumentarfilm klingt
wie ein zeitgeistiger Klon aus IKEA und Multikulti-Comedy und ist trotzdem ganz
ernst gemeint. Schließlich sind ihre vier jugendlichen Helden mit allen
Wassern medienwissender Selbstdarstellung gewaschen, und dennoch immer wieder
auch von einer Ehrlichkeit, die ans Herz geht. Sie heißen Ali und Klais,
Ertan und Alban, sie treffen sich in einem Jugendzentrum in Köln. Ihre
Familien kommen aus Ländern, wo Allah das Sagen hat und Männer noch
echte Männer sein dürfen: Marokko, Tunesien, Albanien und die Türkei.
Doch die nationalen Unterschiede spielen keine große Rolle, als Deklassierte
sind sie sich erstmal gleich. Außerdem rappen sie sich gemeinsam den Frust
vom Leib. Ihr Leben erkämpfen müssen sie alleine, jeder auf seine
Art, mit mehr Glück oder weniger.
Die junge Kölner Regisseurin nimmt ihre jugendlichen
Helden beim Wort, ganz ohne pädagogische Distanzierungsgesten. Was lebst
du? ist - so die Selbstankündigung des "Kleinen Fernsehspiels",
in dessen Rahmen der Film nach langem Zaudern entstehen konnte - "eine
ehrliche und dicht erzählte filmische Reise in einen oft fremden Alltag
'nebenan'." Eine Expedition also in genau jene Parallelgesellschaft, die
seit einiger Zeit als Horrorszenario durch die Politikerstatements geistert.
Auch ins "Klingelpütz" kommen keine deutschen Jugendlichen. Und
natürlich zeigt auch Braun das Machogehabe ihrer Helden, ihre Anspruchshaltungen
und den Traum vom schnellen Geld. Doch anders als ein vorbeiziehendes Fernsehteam,
das mal eben ein paar O-Töne abgreift, versteht sich die Filmemacherin
nach alter Dokumentaristenethik vor allem als Verbündete, die sich ihrem
Objekt mit Neugier und Respekt nähert und dabei auch die eigene Person
nicht ausklammert. Zwei Jahre lang hat sie kontinuierlich mit den Jugendlichen
gedreht, ein halbes Jahr vorher ohne Kamera im Jugendzentrum antichambriert.
Und als sie selbst schwanger wurde und ein Kind bekam, wurde auch das Teil des
Films zusammen mit den anrührenden Reaktionen der Jungs, die sich besser
mit dem Wickeltisch auskennen, als es ihr cooles Gehabe annehmen lässt.
Vertrauen ist alles, meint die Regisseurin. Diesen
Respekt - schließlich auch eine alte Rappertugend - merkt man dem Film
in jeder Minute an. Die Absprachen mit ihren Protagonisten hat sie nicht nur
nach dem Buchstaben eingehalten: Das hieß etwa auch, dass Mädchengeschichten
komplett draußen bleiben mussten, nur ein kleiner Hinweis auf diese Abwesenheit
ist geblieben. Am schwierigsten - und für das Filmkonzept wichtig - war
es wohl, in die Familien nach Hause mitzukommen. Verständlich, denn der
Bruch zwischen großem öffentlichem Auftritt und häuslicher Enge
ist, wie man dann sieht, enorm. Es ist die große Stärke von Bettina
Brauns Film, dass es ihr gelingt, solche Brüche aufzuzeigen, ohne damit
billige Demontage zu betreiben. Die vier jedenfalls wachsen uns im Laufe des
Films - bei allem Respekt - immer mehr ans Herz. So erscheint Bettina Brauns
spannungsreiche filmische Begegnung, die vor einem Jahr den Publikumspreis der
Duisburger Filmwoche errang, als hervorragender Vertreter eines Genres, das
sich in seinen besten Momenten mit Leidenschaft der Aufgabe widmet, das Fremde
im Vertrauten und das Vertraute im Fremden zu finden.
Silvia Hallensleben
Eine aufregende interkulturelle
dokumentarische Begegnung, die von angeblicher Multikulti-Idylle ebenso weit
entfernt ist wie vom Schreckensbild der wuchernden Parallelgesellschaft.
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film
Was lebst du?
Deutschland
2004. R, B, K, T: Bettina Braun. P: Herbert Schwering, Christine Kiauk. Sch:
Gesa Marten, Bettina Braun. Pg: Icon/ZDF-Das kleine Fernsehspiel. V: Real Fiction.
L: 84 Min. FSK: ohne Altersbeschränkung. DEA: Berlinale 2005. Mit:
Ali El Mkllaki, Kais Setti, Alban Kadiri, Ertan Dinc. Start (D): 13.10.05
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