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Das
weiße Rauschen
Genial!
Ein Abschlussfilm (an der Kölner Hochschule für Medien) und schon
eine Meisterleistung, mit Preisen bedacht. Ein realitätsnaher Problemfilm
und doch expressive Ausschweifung. Mitten im Film gibt es einen unvorhersehbaren
dramaturgischen Bruch, für den man Regisseur Hans Weingartner lieben muss.
Es beginnt als Kammerspiel in einer WG der Kölner Dasselstraße. Wir
sind unter Erstsemestern, glückliche Kiffer sind auch dabei. Der Film führt
uns Lucas (Daniel Brühl) vor. Wir merken ziemlich schnell, dass wir in
einem Lehrfilm sind. Wir sollen beobachten. Zunächst, wie völlig normal
und sympathisch er sich verhält. Der Film zeigt eine Fülle von Details
von hohem Wiedererkennungswert. Doch das war das Vorher. Im Nachher werden uns
lehrbuchmäßig Symptome vorgespielt, die von kompetenter Seite als
manifeste paranoide Schizophrenie diagnostiziert werden. Wie reagieren Angehörige
darauf? Wie der psychisch Erkrankte? Er hört weißes Rauschen, er
folgt herrischen Stimmen, er springt aus dem Fenster.
Der
Film ist genau, psychiatrisch abgesichert und doch mehr als nur die Demonstration
eines klinischen Falles. Ich denke, das liegt an der starken filmischen Präsenz
des Schauspielers Daniel Brühl. Wir müssen das tun, wogegen sich jeder
Therapeut zu schützen weiß: die beobachtende Haltung aufgeben und
die mitfühlende einnehmen. Wir geraten stilistisch in die Subjektive des
Probanden. Die Kamera (auch Hans Weingartner) ist gefordert. Sie kriecht auf
dem Boden umher, sie zieht Kreise, sie geht eigene Wege.
Das
ist mehr als wir von einer Dogma-Kamera kennen. Der Film hat sich mittlerweile
von dem, was anfangs zu befürchten war, wegentwickelt. Keine Lehrveranstaltung
(Exploration/Diagnose/Therapie), wir lassen uns von etwas verführen, das
man, der Kamera zu glauben, die Attraktion des weißen Rauschens, sprich:
des psychiatrischen Befundes nennen müsste.
Wie
das? Übernimmt jetzt die Ästhetik die Verantwortung? Etwas passiert
mit dem Film. Die Handlung ist es nicht. Die unvernünftige Angehörige,
die Schwester (Anabelle Lachatte), holt den Schizophrenen aus der Klinik raus.
Das ist etwas zu aufgesetzt gespielt, aber glaubhaft beobachtet. Der kiffende
WG-Mitbewohner (großartig: Patrick Joswig) rät, ebenfalls angehörigentypisch,
das Medikament Haldol wegzuschmeißen und sein Leben zu leben. Der Patient
spült die Medikamente im Klo runter, und jetzt müsste der Psychiater
kommen, dem die Haare zu Berge stehen.
Aber
der Film kommt stattdessen zum dramaturgischen Bruch. Er übernimmt selbst
die ästhetisch einwandfreie Haltung des weißen Rauschens. Und das
geht so: Lucas, nicht mehr sediert, wird aktiv und springt von der Rheinbrücke.
Weingartner findet dafür verlockende, euphorische Bilder. Die Unterwasserkamera
wird eingesetzt, hell ist es unten im Flussbett, es sprudelt wie im klaren Quell.
Wir werden für das letzte Drittel des Films nicht mehr ins gewissenhafte
Kammerspiel zurückgehen. Wir bleiben draußen. Ein Schnitt, die Camper
holen den Selbstmörder aus dem Rhein. Ein Schnitt, wir sind an Spaniens
Küste. Schließlich ein letztes Bild: Aussteiger Lucas sitzt seiner
selbst gewiss ganz allein auf einem Felsen vor einem Lagerfeuer, das sein Gesicht
beleuchtet. Dahinter breitet sich majestätisch das Mittelmeer.
Es
ist mehr als offensichtlich, dass das Schlussbild einschließlich des letzten
Filmdrittels unerlaubt ist. Wir sind woanders. In einem psychiatrischen Märchen.
Wir erleben stilistischen Mutwillen. Ganz zum Schluss überrascht der Film
mit dem Mittel der interpretierenden Off-Stimme, also mit etwas ästhetisch
ganz Furchtbarem. Und doch, man muss sich zwar dazu aufraffen, aber: die Massierung
von inhaltlichen und ästhetischen Fragen führt statt in die Beliebigkeit
zu einer befreienden, hypnotischen Stringenz. Und wenn er nicht gestorben ist,
so lebt Lucas noch heute. Hoch auf dem Felsen. Vor sich die endlose Brandung,
die längste Einstellung des Films, die Kamera auf dem Stativ, die große
Ruhe des weißen Rauschens.
Von
der realistischen Akribie des Anfangs zum monumentalen Pathos des Schlusses:
Das wirft Fragen über Fragen auf. Die wir auf wundersame Weise gar nicht
beantwortet haben wollen. Ein Dialogsatz wie "Für die Psychiater bin
ich schizophren, für alle anderen ein Spinner, ich: will mein Leben leben"
ist aus dem Munde eines praktizierenden Selbstmörders etwas, das sonst
zur Gegenrede einlädt. Warum dieser Gedanke sich angesichts des "weißen
Rauschens" nicht einstellt - warum stattdessen der Merksatz sowie die ganze
Schlussapotheose des Films einwandfrei schön und hoffnungsvoll ist, bleibt
ein Rätsel. Ich tippe auf die Überzeugungskraft der großen Talente
Weingartner und Brühl, wohl auch auf die Sympathie, mit der die überraschenden
Wendungen einer Geschichte erzählt werden, die einfach bleibt, wiewohl
zusammenmontiert aus der Überfülle von 130 Stunden digitalen Materials.
Respekt!
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: epd Film 2/2002
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
mehrere Kritiken
Das
weiße Rauschen
BRD
2001. R:
Hans Weingartner. B: Hans Weingartner, Toby Amann. P: Bernadette Werrelmann.
K: Matthias Schellenberg, Hans Weingartner. Sch: Dirk Oetelshoven. M, T: Marek
Goldowski. A: Claudia Stock. Pg: Cameo Film- und Fernsehproduktion. V: X-Verleih.
L: 110 Min. FBW: besonders wertvoll. DEA: Max Ophüls Preis 2001. Da: Daniel
Brühl (Lukas), Anabelle Lachatte (Kati), Patrick Joswig (Jochen), Karl
Danguillier (Jesus), Katharina Schüttler (Kinodate), Ilse Strambowski (Kinokassiererin),
Michael Schütz (Psychiater), Michael Lentz (Opa), Ralf Wolf (Vorarbeiter).
Start:
31.1.2002 (D).
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