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Wenn
die Masken fallen
Zu guter Letzt erklärt uns Regisseur Skolimowski
höchstselbst, was wir im Film bis dahin gesehen haben: „Dies waren die
Gefahren des Lebens: Gram, Blindheit, Armut und Wahnsinn", und mit diesem
Epilog endet auch Turgenevs Novelle „Liebesfluten" (1872), die in diesem
üppigen Kostümfilm nacherzählt wird.
Aber zu sehen war das genaue Gegenteil: luxuriöse Schwelgerei, zur Schau
gestellter Reichtum sowie Liebeshändel und Handelsleben, sinn- und trickreich
kalkuliert. Sowohl Turgenevs angestaubte moralische Warnungen als auch des Regisseurs
bemühte Botschaft treffen ins Leere; die dekorative Bilderpracht des Films
versichert unablässig, wie gefahr- und problemlos doch das Leben ist, ganz
gleich ob die Masken fallen oder nicht.
Der reiche russische Landadelige Dimitri, auf Reisen
in Europa, kann sich nicht zwischen zwei schönen Frauen entscheiden. Muß
er sich überhaupt entscheiden? In Mainz verliebt er sich in die Konditorin
Gemma (Valeria Golino), in Wiesbaden in Nastassja Kinski. Ein Duell hatte schon
vorher keine Lösung gebracht, weil Dimitri sich nicht zur Abgabe eines
zielgerichteten Schusses entscheiden konnte. Da aber offenbar einer eine Entscheidung
treffen muß, schon um den Fortgang der Geschichte zu ermöglichen,
spricht das Schicksal. Es entscheidet, daß Dimitri keine der beiden Frauen
bekommt; die eine wandert aus (nach Amerika), die andere fährt zum Karneval
nach Venedig. Dimitri bleibt nichts anderes, als von der Lagunenstadt zu träumen,
ein russisches Liebeslied vor sich hinsummend („Freudige Jahre, glückliche
Tage/Wie die Fluten des Frühlings/Wehtest du davon").
Die Karnevalselegie verhilft uns zu den einzigen
überzeugenden Bildeinfällen, die in ihrer surrealen Komposition und
in ihrer Metaphorik an Skolimowskis große Zeit gemahnen. In der Flucht
der Gemächer treffen wir auf einen majestätischen Schimmel, der das
Zimmer füllt, und das Gespann, das auf einem Ponton über die Lagune
gerudert wird, scheint über die Wasseroberfläche zu fahren. Ein Bild
von etwas für etwas, aber dann ist schon Schluß mit Poesie und Aura.
Der Film findet zu keiner irgendwie gearteten Identität. Die Kalkulation
auf den internationalen und gesamteuropäischen Markt hat dazu geführt,
daß der Film in einem Nirgendwo spielt, zeitlich und örtlich. Der
Amerikaner Timothy Hutton wirkt weder wie ein Russe noch wie jemand aus dem
vorigen Jahrhundert, aber er spielt die Hauptrolle. Der Golino ist nicht zu
glauben, daß sie Pfälzerin ist; der Kinski selbstredend nicht, daß
sie eine Hessin spielt, und dem Urbano Barberini glaubt man mitnichten den Preußen
von Dönhoff. Und natürlich glaubt man keinem, daß er von gestern
ist. Wohl aber glaubt man sofort, daß die Theaterkostüme aus den
besten Etablissements von Rom, Florenz, London, Wien und Berlin kommen und daß
der völlig unmotiviert eingesetzte, wohl als Attraktion gedachte Heißluftballon
von der Fa. Aeronord, Mailand, gestellt ist. Der Aufwand, der in diesem Film
getrieben wird, schlägt sich selbst tot; der Straßenfeger fegt, wo
schon gefegt ist; Kerzenlicht leuchtet, wo es hell ist; Dialoge sagen etwas,
wo schon alles gesagt ist, und die Einstellung dauert, wo der Film leer bleibt.
Skolimowski kam in einem Interview auf seinen Großvater,
den Zarengeneral, zu sprechen: „Ich höre nicht auf, gegen den Russen in
mir anzukämpfen". Wohlan denn, wenn Turgenevs Gram, Blindheit, Armut,
Wahnsinn keine Lebensgefahr mehr sind, dann sind Sattheit, Blauäugigkeit,
Luxus und Kalkulation heute die Gefahren des Films, quod erat demonstrandum.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 6/90
Wenn
die Masken fallen
TORRENTS OF SPRING
Frankreich/Italien 1990. R: Jerzy Skolimowski. B: Jerzy
Skolimowski, Arcangelo Bonaccorso (nach der Erzählung „Frühlingsfluten"
von Ivan Turgenev). K: Dante Spinotti. Sch: Cesare D’Amico. M: Stanley Myers.
T: Andree Hervee. Ba: Francesco Bronzi. Ko: Theodor Pistek, Sibylle Ulsamer.
Pg: Erre/Reteitalia/Les Films Ariane/Films A 2. Gl: Mario Cotone. P: Angelo
Rizzoli. V: Fox. L:
101 Min. St: 10.5.1990. D: Timothy Hutton (Dimitri Sanin),
Nastassja Kinski (Maria Polozov), Valeria Golino (Gemma Rosselli), William Forsythe
(Polozov), Urbano Barberini (Von Doenhoft),
Jacques Herlin (Pantaleone), Jerzy Skolimowski (Victor Victorovich).
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