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Wer
früher stirbt, ist länger tot
Dreh mit Gott
Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein kleiner
Junge in einem bayerischen Dorf erfährt, daß seine Mutter nicht etwa
durch Unfall, sondern bei seiner Geburt ums Leben kam, fühlt sich von da
ab von Schuldgefühlen verfolgt, versucht seinen Vater neu zu verkuppeln
und macht alles immer schlimmer, bis die Sache doch einen glücklichen Ausgang
findet.
In einem Artikel zum Filmfest München in der
Süddeutschen Zeitung vom 18.7.2006 schreibt der Rezensent H.G. Pflaum über
die deutschen Debütfilme des Festivals und charakterisiert den Film, um
den es hier gehen soll, mit den Worten „der vom Klamauk gefährdete Bayernfilm“.
Das ist zunächst weder richtig noch falsch – aber interessant, denn es
läßt Einblicke in die Denkstrukturen zu, denen das derzeitige deutsche
Kino seine je nach Perspektive mangelnde oder doch stetig wachsende Größe
verdankt.
Man strebt ja stets danach, die kulturellen Hervorbringungen
des Menschen irgendwie zu ordnen und zu klassifizieren. Durchs deutsche Kino
laufen zwei Trennlinien, was zunächst kaum auffällt, da sie weitgehend
parallel verlaufen. Die eine ist wohlbekannt, das ist die Trennung zwischen
dem künstlerisch wertvollen Petzold-Hochhäusler-Heisenberg-Festival-Film
sowie dem kommerziell erfolgreichen Eichinger-Arndt-Berben-Publikumsfilm. Ersterer
ist oft recht langweilig, letzterer meist ziemlich dämlich.
Es gibt aber eine zweite Trennung, nach der man Filme
einteilen kann, ganz wertfrei und ohne zu urteilen, und das ist die nach Konfession.
Zwar spielt die Frage, ob man katholisch oder evangelisch ist, im heutigen Leben
keinerlei Rolle mehr, aber die beiden christlichen Bekenntnisse haben künstlerische
Haltungen und Sichtweisen hervorgebracht, die bis heute zu erkennen sind.
Der deutsche Kunstfilm, um ihn mal so zu nennen,
ist durchweg protestantisch. Der Weg zur Erlösung führt über
die Innerlichkeit, allein aus sich selbst heraus existiert der Mensch, sein
Verhältnis zur Welt ist ein privates, alles, was Oberfläche ist, steht
im Verdacht, oberflächlich zu sein. Sinnliche Reize werden sparsam dosiert,
und das Ideal, dem man sich annähern will, ist die Reduktion, das Weglassen.
Der deutsche Kommerzfilm hingegen entsteht aus einer
Haltung, die man katholisch nennen könnte – mehr ist mehr, Spaß ist
erwünscht, und wenn was schiefgeht, kann man ja hinterher immer noch zur
Beichte gehen. Die künstlerische Grundhaltung ist der einer barocken Kirche
zu vergleichen, tieferer Sinn ist zweitrangig, solange das Drama, die Erzählung,
den Zuschauer mitreißt.
Diese beiden Haltungen, die eigentlich nicht von
vornherein mit hoher oder niederer Qualität verknüpft sind, lassen
sich in der Filmgeschichte immer wieder festmachen, in reinster Form natürlich
bei den Filmemachern, die aus den entsprechenden Ländern kommen – Ingmar
Bergmans Filme sind protestantisch in Reinkultur, während sich kein katholischerer
Filmemacher als Fellini denken ließe.
In Deutschland existiert bekanntermaßen beides.
Seit Bismarcks Zeiten aber hat der protestantische Norden die Deutungshoheit,
seit dieser Zeit gilt das südländisch-katholische Temperament als
ein bisserl deppert, und der klar geordnete protestantische Geist schaut mißbilligend
herab auf die unseriöse Unterhaltung, die er hinter den Oberflächenreizen
der katholisch geprägten Kunst vermutet.
Um jetzt endlich mal zur Sache zu kommen: „Wer früher
stirbt, ist länger tot“ ist ein durch und durch katholischer Film. Vom
Klamauk gefährdet ist er in der Tat, und auch die Zuschreibung „Bayernfilm“
ist keineswegs falsch, aber in ihrer Gesamtheit geht diese Aussage am Kern der
Sache vorbei, denn sie läßt eine leicht dämliche Bauerntheaterklamotte
erwarten, und das ist der Film keineswegs. Die Art, in der Marcus H. Rosenmüller
seinen jungen Protagonisten durch eine Serie von zwischenmenschlichen Verwirrungen
im Voralpenland manövriert, ist so phantasievoll ausgedacht und so voller
liebevoller Einzelheiten im Großen wie im Kleinen, daß man ihm die
Unterhaltungsfilm-Dämlichkeiten, in die er immer mal wieder abrutscht,
ziemlich gern verzeiht. Allein die zentrale Szene des Films, ein imaginiertes,
höchst theatralisches Jüngstes Gericht, das sich der Held aus den
Einzelteilen einer realen Theaterprobe zusammenträumt, ist ein Triumph
der kinematographischen Vorstellungskraft, bei dem man bzw. zumindest der Schreiber
dieser Zeilen lauthals Hurra schreien möchte, denn so etwas hat es hierzulande
einfach ziemlich lang nicht mehr gegeben.
Was der Film aber auch hat, und daran bemißt
sich ja letztlich die Qualität eines Films, sei er nun protestantisch,
katholisch oder buddhistisch: Er interessiert sich für seine Helden, er
fühlt mit ihnen und hat ein tiefes Einfühlungsvermögen in ihr
und damit in unser Leben. Und was er dazu auch noch hat, ist eine höchst
eigene Identität, eine Erzählhaltung, die erkennbar aus eigenem Erleben
entspringt. Damit hat „Wer früher stirbt, ist länger tot“ bei aller
Klamauk-Gefährdung sogar etwas, das man im protestantischen deutschen Kunstfilm
oft vergeblich sucht, denn dieser ist allzu oft und allzu deutlich ans französische
Kino angelehnt (und daher in Cannes gern gesehen) – was aber im Grunde ein Mißverständnis
ist, denn die französische Filmkultur ist, um den Vergleich ein letztes
Mal zu gebrauchen, eigentlich katholisch.
Abseits dieser Analogien wäre es ganz allgemein
wünschenswert, wenn das Unterhaltungskino hierzulande nicht den Vollidioten
überlassen bliebe, und da ist „Wer früher stirbt, ist länger
tot“ ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Dietrich Brüggemann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: Schnitt
Wer
früher stirbt, ist länger tot
D 2006. R,B: Marcus H. Rosenmüller.
B: Christian Lech. K: Stefan Biebl. S: Susanne Hartmann. M: Gerd Baumann. P: Roxy Film. D: Markus Krojer, Fritz
Karl, Jule Ronstedt, Franz Xaver Brückner. 105 Min. Movienet ab 17.8.2006
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