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Wer
mich liebt, nimmt den Zug
Liebe
im Abteil
Kammerspiel
auf Rädern
Jean-Baptiste
Emmerich ist tot und hält trotzdem noch alle Fäden in der Hand. In
Patrice Chereaus „Wer mich liebt, nehmen den Zug“ lernt man die eigentliche
Hauptfigur des Geschehens nur als mehrfach gespiegeltes Zerrbild kennen. Der
Pariser Maler, der nach siebzig tatkräftigen Lebensjahren gestorben ist,
scheint eine äußerst charismatische Persönlichkeit gewesen zu
sein. "Wer mich liebt nimmt den Zug!" lautet die Verfügung des
Verstorbenen, und all seine Freunde machen sich auf den Weg von Paris nach Limoges,
wo Jean-Baptiste am Ort seiner Kindheit begraben wird. In der Enge des Zuges
drängelt man sich, wie man sich zu Lebzeiten um die Gunst des Malers gedrängt
hat. Auf einmal hockt man ganz dicht aufeinander, Freunde, Rivalen, gescheiterte
Liebeskombinationen. Jean Marie (Charles Berling), der drogenabhängige
Neffe des Malers, trifft hier wieder auf seine Frau Claire (Valria Bruni-Tedeschi),
von der er sich vor kurzem getrennt hat und die nun ein Kind von ihm erwartet.
Francois (Pascal Greggory), ältester Schüler und Ziehsohn des Malers,
reist mit seinem deutlich jüngeren Liebhaber Louis (Bruno Todeschini).
Auch für sie wird die Reise zur Bewährungsprobe, als Louis sich schlagartig
in einen der Mitreisenden verliebt. Fast unüberschaubar ist der Beziehungfilz
innerhalb der Pariser Reisegesellschaft. Alle reden vertraut über den Toten
und fast jeder behauptet, ihn am besten gekannt zu haben. Als die exaltierte
Künstlerszene am Grab und beim Leichenschmaus auf die Familie in der Provinz
trifft, eskaliert die Situation.
Am
Anfang wirkt das wie ein Kammerspiel auf Rädern. Mit Spannung entschlüsselt
man zunächst noch Stück für Stück das Beziehungsgeflecht,
das sich da zwischen den Zugabteilen drängt. Auch in Patrice Chereaus Film
scheint sich die Welt wieder einzig um amouröse Verwicklungen zu drehen.
Die alte Krankheit des französischen Kinos. Selbst die Drogensucht oder
die HIV-Infizierung einzelner Figuren wirken nur wie dekoratives Beiwerk zur
Selbstbespiegelung, und gerade die realistischen Details kann man in diesem
Film am wenigsten ernst nehmen. Chereau (Die
Bartholomäusnacht)
hat sich auch als Opernregisseur einen Namen gemacht, und das Finale beim Leichenschmaus
hat durchaus wagnerische Qualitäten. Die Glanzpunkte sind allein schauspielerischer
Natur: Valeria Bruni-Tedeschi balanciert gekonnt am Rande des Wahnsinns, Vincent
Perez entzückt als postoperative Transsexuelle und Jean-Louis Trintignant
bringt als Ensembleältester ein wenig Ruhe in die aufgeblasene Psychodramatik.
Martin
Schwickert
Dieser
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der filmzentrale mehrere Kritiken
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