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Wilde Erdbeeren
„Wilde
Erdbeeren“ ist vordergründig ein Film über den Tod und die Einsamkeit,
doch in Wahrheit ist sein Thema die Frage nach dem geglückten Leben.
Der Film beginnt mit einer Selbstvorstellung der Hauptfigur, des 78-jährigen
Isak Borg (Victor Sjöström). Er verzichtete weitgehend auf ein Leben
mit Mitmenschen und widmete sich nur der Wissenschaft, teilt er uns mit. Jetzt
steht seine öffentliche Ehrung als doctor jubilaris bevor. Er hat den Höhepunkt
seines äußeren und wissenschaftlichen Lebens erreicht. Isak Borg
scheint mit sich im Reinen zu sein.
Dieser Einleitung folgt eine Traumszene. Es ist die erste von insgesamt
vier Traumszenen des Films. Isak Borg befindet sich in einem unbekannten Teil
seiner Heimatstadt, er ist allein, und er hat die Orientierung verloren, wie
seine Stimme uns aus dem Off mitteilt. Zudem sind alle Uhren ohne Zeiger. Isak
Borg befindet sich in einem zeitlosen Nirgendwo. Die Szenerie erhält durch
Überbelichtung und starken Schwarz-Weiß-Kontrast etwas Surreales.
Ein von Pferden gezogener Leichenwagen ohne Kutscher hat auf der Straße
einen Unfall. Der Sarg fällt herunter und öffnet sich. In diesem Sarg
findet Isak Borg sich selber. Doch die Leiche lebt noch. Sie ist ein lebender
Toter. Und es ist nicht unterscheidbar, welcher Isak Borg der eigentliche Tote
ist.
Dieser Traum konterkariert die vorhergehende Einleitung des Films.
Isak Borg ist keineswegs mit sich im Reinen. In seinen Träumen versucht
eine Wahrheit zu ihm durchzudringen, die er verdecken will, dass er nämlich
ein lebender Toter ist. Erst spät im Film wird er diese Erkenntnis bewusst
aussprechen. Der alte Mann ist vor dem Leben, vor seinem Leben geflohen. Er
hat sich in reiner Rationalität eingerichtet, die doch eine tote Welt ist,
da alles Gefühl ausgesperrt bleibt. Die Entwicklung des Films besteht in
Isak Borgs Ausbrechen aus diesem Zustand. Seine Existenz wird dabei in den Lebensentwürfen
der ihm begegnenden Figuren mehrfach gespiegelt.
Am Morgen nach seinem Traum treffen wir Isak Borg im Umgang mit anderen
Menschen: seiner Haushälterin Agda (Jullan Kindahl) und seiner Schwiegertochter
Marianne (Ingrid Thulin). Nach dem Frühstück bricht er mit Marianne
im Auto nach Lund zu seiner Ehrung auf. Der größte Teil des Films
handelt auf dieser Reise. Isak Borg ist auf den ersten Blick höflich und
freundlich, ein bisschen mürrisch vielleicht, doch insgesamt umgänglich.
Doch dieser Blick täuscht. Die freundliche Höflichkeit ist nur die
Oberfläche von Kälte und Gleichgültigkeit. Gleich am Beginn der
Fahrt konfrontiert Marianne ihn mit ihrer ehrlichen Einschätzung. Er sei
ein rücksichtloser Egoist, sagt sie ihm, den die Probleme seiner Mitmenschen
nicht interessieren. Marianne weist ihn auf die Ähnlichkeit mit seinem
Sohn Ewald hin, ihrem Ehemann, von dem sie sich trennen will. Sein Sohn sei
ihm ähnlich und er hasse seinen Vater. Isak Borg bleibt auch jetzt höflich
und freundlich, oder ist er nur gefühllos? Der weitere Verlauf des Films
wird zeigen, dass eben diese emotionale Gleichgültigkeit und dieses vordergründige
Verständnis für alles und jeden Isaks Problem sind.
Bei einem verlassenen Sommerhaus, in dem Isak die Sommer seiner Jugend
verbrachte, rasten die beiden und während Marianne schwimmen geht, bleibt
Isak allein zurück und überlässt sich seinen Träumen. Es
ist jene Stelle, wo die wilden Erdbeeren wachsen, die seinen Traum anregt. Der
deutsche Titel des Films lautet „Wilde Erdbeeren“ und gibt den Originaltitel
nur unvollkommen wieder. „Smultronstället“ ist richtiger die Stelle, an
der wilde Erdbeeren, auf Schwedisch Smulton, wachsen. Es ist ein geheimer kostbarer
Ort, der das vollkommene Leben verkörpert.
Isak kehrt in der Erinnerung zurück in die Zeit seiner Jugend,
die um ihn herum lebendig wird. Bergman gestaltet diese zentrale Traumszene
so, dass der alte Isak Borg sich wie ein unsichtbarer Zeuge in der längst
vergangenen Szenerie eines Sommerurlaubs bewegt. Isak sieht seine Geschwister,
und seine Tante und seinen Onkel, bei denen alle ihre Ferien verbringen, nicht
jedoch sich selbst und auch nicht seine Eltern. Alle sind weiß gekleidet,
sie lachen, necken sich. Es herrscht eine ausgelassene Urlaubsstimmung. Der
Zuschauer ahnt, dass Isak von dieser Stimmung ausgeschlossen blieb. In dem Traum,
der eine glückliche Zeit zeigt, kommt Isak selbst nicht vor.
Isak findet seine mit ihm verlobte Cousine Sara (Bibi Andersson) beim
Erdbeerpflücken. Sein Bruder Sigfrid (Per Sjöstrand) kommt hinzu,
umwirbt Sara und küsst sie. Sara wehrt ihn ab und schwärmt von ihrem
Verlobten Isak, der sie doch lieb hat. Ihre Äußerung wirkt jedoch
nicht unbeschwert und lebenslustig, wie man es von einem jungen Paar erwarten
sollte, sondern so als müsse sie sich selbst überzeugen.
Wenig später wird der unsichtbare Isak Zeuge, wie Sara sich ihrer Cousine
offenbart: Isak sei so ein feiner Mensch, so moralisch und gefühlvoll.
Und er redet von Sünden. Sara ist Isaks Jugendliebe. Doch aus ihren Worten
spricht weniger Liebe als vielmehr Respekt. So wie sie ihren Verlobten schildert,
erscheint er nicht als Liebhaber, sondern als eine Art strenger Onkel. Er erscheint
als das Gegenteil seines Bruders. Der Film fasst die Entwicklung kurz zusammen:
Sara heiratet später Sigfrid, Isak heiratet Kathrin. In einer späteren
Traumszene werden wir Kathrin (Gertrud Fridh) begegnen, die an ihrer Ehe und
der Gefühlskälte Isaks zerbrach.
Doch bevor Isak seine Selbsterkenntnis erreichen kann, finden in der
Gegenwart der Filmhandlung einige Begegnungen statt, die seine Situation spiegeln.
Beim Erwachen aus seinem Traum von den Jugendjahren findet Isak sich einer jungen
Frau gegenüber, die ebenfalls Sara heißt, und die ebenfalls von Bibi
Andersson gespielt wird. Sie ist unterwegs auf einer Europareise, begleitet
von ihrem Freund Anders (Folke Sundquist), der Pfarrer werden will, und dem
Medizinstudenten Viktor (Björn Bjelfvenstem). Die Sara der Gegenwart ist
eine exakte Wiederholung der Sara aus Isaks Erinnerung, sie ist unbefangen,
spontan und frech. Ihre beiden ständig streitenden Begleiter können
in gewisser Weise als eine Aufspaltung Isaks verstanden werden. Der Theologiestudent
Anders steht für Isaks manchmal pastorale Abgeklärtheit, der Mediziner
Viktor, der sich als zynischer Rationalist gibt, steht für den Wissenschaftler
Isak Borg. Diese beiden leidenschaftlich streitenden Seiten sind in Isaks Wesen
vereint und lähmen sich dort gegenseitig. Bei einem Streit zwischen den
beiden jungen Männern bleibt Isak neutral und Sara fasst seine Haltung
treffend zusammen: „Das ist Ihre Masche, immer ironisch“.
Die drei jungen Leute fahren jetzt mit Isak und Marianne im Wagen
und nach einem Unfall wird die Gesellschaft um das Ehepaar Allmann erweitert.
Die Allmanns illustrieren den Alptraum einer vollkommen gescheiterten Ehe, in
der die Partner einander die Hölle sind. Herr Allmann (Gunnar Sjöberg),
ein verbitterter Zyniker, verspottet seine Frau Berrit (Gunnel Broström)
ständig. Die beiden streiten ununterbrochen, reden schlecht übereinander
und verletzen sich mit gnadenloser Schärfe. Als Marianne die gegenseitige
Quälerei der beiden nicht mehr erträgt, wirft sie das Paar aus dem
Auto. „Verzeihen Sie. Wenn Sie können“, sagt Berrit beim Aussteigen.
Stehen die junge Sara und ihre beiden Begleiter für den Anfang
einer Beziehung, als einer Zeit der Lebensfreude, in der noch alles möglich
ist, so symbolisieren die Allmanns das Ende und zwar als gescheiterte Beziehung.
Beide Gruppen illustrieren Isaks eigenes Leben. Ihm gelang es nicht, seine Jugendliebe
zu gewinnen und seine eigene Ehe scheiterte, so wie auch die Ehe seines Sohnes
vor dem Scheitern steht.
Ein kurzer Besuch bei Isak Borgs Mutter (Naima Wifstrand) lässt
uns den alten Mann in einem neuen Licht sehen. Die Mutter ist 96 und sie wird
als eine autoritäre eisige Alte gezeigt, mehr Norne oder Mumie als Mensch.
„Findest du es nicht kalt hier“, fragt sie ihren Sohn bezeichnenderweise. „Ich
habe gefroren, seit ich geboren bin“. Marianne, die Isak begleitet fasst ihren
Eindruck anschließend genauso zusammen: „Nie ist mir soviel Kälte
begegnet.“ Alle ihre Kinder außer Isak sind gestorben, kein Enkel oder
Urenkel besucht sie, beklagt die Alte mit harter Stimme und über ihre Kinder
spricht sie wie über seltsame Tiere. Diese alte Frau verfügt über
keinerlei Gefühl oder Mitmenschlichkeit, sie ist eine lebende Tote - und
sie ist Isaks Mutter. Unter all den Dingen aus ihrem Leben, die sie gleichgültig
hervorkramt, findet sie auch die Uhr von Isaks Vater. Es ist eine Uhr, bei der
alle Zeiger abgebrochen sind, genauso eine Uhr, wie Isak sie in seinem morgendlichen
Traum gesehen hatte. Diese kaputte Uhr ist alles, was wir von Isaks Vater erfahren.
Ansonsten bleibt dieser Vater eine auffallende Leerstelle im Film. Der Schluss
drängt sich auf, dass die Ehe von Isaks Eltern eine ebensolche Hölle
war, wie seine eigene und die seines Sohnes. Von der Hartherzigkeit dieser Mutter
führt eine direkte Linie durch die folgenden Generationen.
Die sich anschließende dritte Traumsequenz bringt Isaks Leben
auf den Punkt. Es ist eine surreale Sequenz mit gespenstischer Kulisse. Isak
trifft zuerst seine Jugendliebe Sara, die ihm einen Spiegel vorhält. Darin
sieht er sich als alten Mann, der bald sterben wird. „Du erträgst die Wahrheit
nicht“, sagt Sara. „Obwohl du soviel weißt, weißt du nichts.“ Sie
teilt ihm mit, dass sie statt seiner seinen Bruder Sigfrid heiraten wird. Isak
sieht wie Sara und Sigfrid sich küssen. Sein Gesichtsausdruck zeigt, dass
er nach all den Jahren diesen Verlust noch immer nicht verwunden hat.
Die Szene ändert sich und jetzt tritt ein Prüfer in der
Gestalt Herrn Allmanns (Gunnar Sjöberg) auf, der Isak zu einem Examen bittet.
Wie ein hilfloser Student scheitert Isak bei der Prüfung. Im Mikroskop
kann er nichts sehen, einen Text an der Tafel kann er nicht lesen, und er stellt
eine völlig falsche Diagnose. Doch v.a. weiß er nicht, was die erste
Pflicht des Mediziners ist. Diese Pflicht sei es, um Verzeihung zu bitten, belehrt
ihn der Prüfer Allmann. Doch der Prüfer ist jetzt auch Ankläger.
Was denn sein Verbrechen sei, fragt Isak. Selbstsucht, Gefühlskälte,
Selbstgefälligkeit. Seine Frau habe ihn angeklagt.
Isak folgt Allmann zu einer Szene im Wald. Dort sieht er seine Frau
Kathrin (Gertrud Fridh) und ihren Liebhaber. Diese Szene haftet noch immer fest
in Isaks Gedächtnis. Nach 40 Jahren kennt er noch immer Jahr (1917) und
Tag genau. Kathrin sagt, dass sie Isak alles erzählen will. Doch sie kennt
seine Antwort schon. „Er wird sagen: Armes kleines Mädchen, du tust mit
leid. Als ob er Gott selber wäre.“ Ihn lässt alles kalt. Seine Worte
sind nur verlogener Edelmut, und er wird ihr ein Beruhigungsmittel bringen.
Es sei seine Schuld, dass sie so geworden ist, sagt Kathrin. „Ihm dringt nichts
unter die Haut, er ist eiskalt“. Schweigend verfolgt Isak diese Szene. Was seine
Strafe sei, will er wissen. „Die Übliche“, sagt Allmann, „Einsamkeit“.
Und dieses Wort Einsamkeit wird dreimal wiederholt.
Diese Traumszene fasst Isaks Wesen zusammen und endlich ist er fähig,
sich selbst zu erkennen. Seine Freundlichkeit und Höflichkeit sind nur
Fassade, hinter der eine emotionale Leere steht. Menschen, die ihn nur oberflächlich
kennen sind von der Fassade beeindruckt, wie eine kurze Begegnung mit einem
Tankwart (Max von Sydow) zeigt, der den früheren Arzt bewundert. Doch die
Menschen, die Isak nahe stehen, verkümmern an seiner Gefühllosigkeit
und Kälte. Statt Zuwendung und Liebe erhalten sie ein Beruhigungsmittel.
Sara konnte sich rechtzeitig abwenden, Kathrin ging an dieser Beziehung zugrunde
und Isaks Sohn Ewald vermochte diese Lieblosigkeit nur zu ertragen, indem er
sie kopierte und so zu einer Wiedergeburt seines Vaters wurde. Isak hatte nie
wirklich gelebt, erst jetzt am Ende seines Daseins gesteht er es sich ein. Und
diese Erkenntnis bringt er mit aus seinem Traum: „Dass ich ein Toter bin, obwohl
ich lebe“.
Ist es zu spät? Isak kann nichts ungeschehen machen, doch er
kann versuchen zu verhindern, dass sein Sohn den gleichen Fehler macht. Marianne
berichtet von einer Aussprache mit ihrem Mann. In dieser Szene werden die verschiedenen
Fäden und Spiegelungen zusammen geführt. Wir erfahren, dass Marianne
schwanger ist, und dass Ewald (Gunnar Björnstrand) kein Kind will. Er war
selber ein unwillkommenes Kind in einer Ehe, die die Hölle war, so hören
wir ihn sagen. Wie sein Vater flieht er vor der Verantwortung für andere
Menschen, flieht er vor dem Leben. Sie will nicht, dass es so wird wie mit den
beiden vorhin, sagt Marianne. Isak erschrickt, denn er glaubt sie meint ihn
und seine Frau. Und das gleiche denkt natürlich der Zuschauer, der eben
die letzte Traumszene gesehen hatte. Doch Marianne sprach über die Allmanns,
das ständig streitende Ehepaar.
Der Film endet versöhnlich. Isak lässt die formale Ehrung
der Universität über sich ergehen und es wird angedeutet, dass er
eine Aussprache mit seinem Sohn Ewald suchen will. Sara und ihre beiden ungleichen
Freunde verabschieden sich mit einem Ständchen und Sara flüstert Isak
am Ende zu: „Weißt du, dass ich dich immer lieben werde“. Der Film fasst
hier Handlungs- und Traumebene zusammen, Sara steht in diesem Augenblick für
beide Saras und es ist zugleich die unvergessene Jugendliebe, die Isak grüßt.
Die letzte Szene des Films ist nochmals ein Traum. Wir kehren zurück
in Isaks Kindheit und wir kehren zurück zu den Sommerferien am Meer. Isak
soll Vater und Mutter suchen, und er findet sie friedlich beim Angeln. Diese
Szene ist eher Wunschtraum als Erinnerung, trotzdem verkörpert sie einen
Augenblick des Glücks und der Lebensfreude. Solche Augenblicke bleiben
in Bergmans Sicht immer präsent, unabhängig von Zeit und Raum, wie
der magische Ort, an dem die wilden Erdbeeren wachsen.
Siegfried
König
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Wilde Erdbeeren
Smultronstället
Schweden 1957, Regie: Ingmar Bergman, Buch: Ingmar Bergman, Kamera:
Gunnar Fischer, Musik: Erik Nordgren. Mit: Victor Sjöström, Bibi Andersson,
Ingrid Thulin, Gunnar Björnstrand, Jullan Kindahl, Folke Sundquist, Björn
Bjelfvenstem, Naima Wifstrand, Gunnar Sjöberg, Gunnel Broström, Gertrud
Fridh, Per Sjöstrand, Max v. Sydow u.a.
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