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Das Winterkind
Gleichgewichtsstörungen als Lebensgefühl: Notizen
zum Filmschaffen von Olivier Assayas anhand seines frühen bürgerlichen
Schauspiels L’Enfant de l’hiver (1989).
Zu Beginn: Eine hochschwangere Frau allein im Bett, und ihre
hilflosen Versuche, sich aufzurichten. Eine Einstellung wie ein Aufruf zum Streik:
Die Körper verweigern jetzt auch im bürgerlichen Beziehungsdrama den
Gehorsam, verhalten sich ungehörig (nach und neben ähnlichen, traditionsreicheren
Revolten in Horrorfilm und Komödie), bestehen auf ihrer Anerkennung per
embodiment und einer adäquat sinnlichen filmischen Wahrnehmung,
die ihren Funktionen und Perzeptionen einen zentralen Platz in und neben der
Narration zuweist.
Im frankophonen Kino ist eine Ästhetik, die derartige
Forderungen gegenwärtig einzulösen versucht, untrennbar verbunden
mit Olivier Assayas und Claire Denis (im weiteren Umfeld u.a. mit Arnaud Desplechin,
Patrice Chereau oder Luc und Jean-Pierre Dardenne), und L’Enfant de l’hiver ist einer der ersten Prototypen dieses losen stilistischen
Projekts, das inzwischen mit demonlover (2002) und L’Intrus (2004) schwindelerregende Höhen der Innovation und Experimentierfreude
erreicht hat.
„[E]in Taumeln und Schlingern, eine Beschleunigung ohne konkretes
Ziel, ein Außersichsein, ein Aus-dem-Zentrum-Rutschen“, so hat Alexander
Horwath in seiner Kritik zu Irma Vep das Lebensgefühl skizziert, um das die Filme von Olivier
Assayas kreisen: Unsichere Bewegungen, aus dem Gleichgewicht geraten. Das meint
die Charaktere, von denen erzählt wird, vor allem aber eine Erzählhaltung:
Das Sensorium der Filme widersetzt sich dem fixierten Parcours einer vorgegebenen
Narration und tastet sich lieber torkelnden Schritts durch die Augen-Blicke
(oder eben auch Ohren-Geräusche oder Haut-Befühlungen) am Wegesrand.
Das Ergebnis ist nicht zuletzt ein ständiges prekäres Austesten dessen,
was am Körper und der leiblichen Wahrnehmung denn noch unvermutet schön
sein kann, in einer Kinolandschaft, deren Mainstream seine größten
Energien schon lange aus einer vielschichtigen Somatik zwischen dem Abfeiern
riefenstählerner Parfümwerbe-Körper und hyper-agiler CGIborgs,
dem wehleidig-liebevollen Abtasten von Schmerz und Beschädigung und dem
Kultivieren ganzkörperlicher, proto-taktiler Filmerlebnisse bezieht.
Ein Taumeln und Schlingern - Der junge Architekt Stéphane (Michel Feller) verlässt
seine schwangere Freundin Natalia (Marie Matheron) zugunsten der Theater-Ausstatterin
Sabine (Clotilde de Bayser), die wiederum fatal auf den verheirateten Schauspieler
Bruno (Jean-Philippe Écoffey) fixiert ist, mit dem sie schon lange eine
Affäre hat. Alle wollen woanders hin, aber niemand will wirklich aufgeben,
was er/sie zurückgelassen hat: Stéphane sucht, ist sein Kind einmal
geboren, immer dringlicher den Kontakt zu diesem, und während Bruno darauf
beharrt, Ehe und Affäre auseinander zu halten, wird Sabine an ihrer obsessiven
Liebe zu ihm immer labiler. In einer Szene, nachdem sie sich zuvor in einer
überstürzten Ellipse von Stéphane davongemacht hat, lässt
sie sich von Bruno wortwörtlich nicht mehr abschütteln. Sie löst
ihre Umklammerung nicht, macht sich schwer, hält ihn an den Beinen fest:
Ein Körpergefühl zwischen Hast und Trägheit bestimmt den Film,
das zu der souveränen Mobilität und Raumkontrolle selbst einer so
krisenhaften Heldenerzählung wie Spider-Man 2 in deutlichem Kontrast steht. Klare Entscheidungen fallen
im Affekt, und wer sie getroffen hat, will sie bald wieder zurücknehmen,
relativieren. Umgekehrt steht am Ende jenes Reifungsprozesses, den L’Enfant d’hiver beschreibt, dann das Akzeptieren der Unumkehrbarkeit der eigenen
Handlungen. Eine Lebenslektion - so könnte der Kino-Ontologe nach André
Bazin sagen -, die zu erteilen der Film als Medium der speichernden, erinnernden
Aufzeichnung irreversibel voranschreitenden Lebens prädestiniert ist.
Eine Beschleunigung ohne konkretes Ziel - Doch der Film selbst ist vom Taumeln und Schlingern seiner
Charaktere infiziert, zugleich Instanz einer unerbittlichen Beweisführung
dessen, was sie sich gegenseitig antun, und ein Instrument des emphatischen
Mit- und Nachvollziehens ihrer inneren und äußeren Bewegung. Der
Stabilitätsverlust, die Versuche, im ständigen beschleunigten Vorwärtsdrängen
wenigstens vorübergehend Balance zu gewinnen, übersetzen sich in jene
für Assayas typischen leicht wackeligen Handkamerafahrten, die - dynamisch
bis an den Rand des Schwindelgefühls - den Raum entlang einem dichten Netz
aus Blicken und Bewegungen einzelner Charaktere durchmessen und topographieren.
Mit der Anmutung eines rauen dokumentarischen Realismus hat das allerdings wenig
zu tun. (Nicht umsonst bezeichnete Assayas ein Jahrzehnt später sein kühnes
Historienepos Les Destinées Sentimentales (2000) als einen "Anti-Dogma-Film".)
"Ungeschönt" wäre auch ein sehr befremdlicher
Begriff für ein Kino, das sich so sehr einer geschärften sinnlichen
Wahrnehmung von Texturen, Mustern, Lichtverhältnissen verschrieben hat,
einem Stil, der mit sound design und Kamerablick beinahe obsessiv auf eine haptische Filmwahrnehmung
hinarbeitet, auch und gerade in den hastig um Überblick bemühten Kamerafahrten,
denen eben in den Kader kommt, was eine konventionelle Szenen-Auflösung
nach dem klassischen Regelbuch gerne unter den Schneidetisch fallen ließe:
Formen, Farben, Muster. Welt in ihrer Materialität, die gegen die Integration
in eine kausale Erzähllogik beträchtliche Widerstände entwickelt.
Deshalb auch das Etikett von einem "musikalischen" Filmemachen für
jene lose assoziierte Reihe von internationalen auteurs (Assayas, Denis, Wong Kar-wai, Atom Egoyan, Hou Hsiao-Hsien),
die es in den 90ern zu großem Ruhm am Festivalkino-Parkett (mit sehr unterschiedlicher
Durchsetzungskraft am internationalen Filmkunstmarkt) gebracht haben: So unterschiedlich
diese individuellen Projekte auch sind, sie alle besiedeln jene Risse, Spalten
und Brüche im Zentralmassiv kausal-linearen Erzählens, die seit den
Sprengarbeiten der ästhetischen Moderne nie mehr ganz verheilt sind, mit
einer Mischung aus essayistischer Reflexivität und sinnlichem Erleben:
Da bietet sich Musik (von Klassik über Pop bis Techno) in ihrer viszeralen,
non-narrativen Wirkung als ein ideales Partnermedium an, als struktureller Ideengeber
und zentrales Gestaltungselement.
L’Enfant de l’hiver gibt sich, was den Einsatz von Musik angeht, dezidiert karg:
Ein paar Score-Splitter von Jorge Arriagada (Stamm-Komponist von Raoul Ruiz)
akzentuieren unaufdringlich die triste Stimmung, der Einsatz eines Popsongs
in einer finalen Partysequenz ist zwar Gänsehaut erregend atmosphärisch
(und durchaus schon als Vorübung zur grandiosen boum in L’Eau froide (1994) zu verstehen), spiegelt aber trotzdem die verkaterte
Stimmung des Films wieder: Und so führt der plötzliche Energiestoß
auch direkt in jene persönliche Katastrophe, auf die der Film als einziges
konkretes Ziel zusteuert.
Ein Außersichsein - Wenn man sich selber nicht recht spürt, um ein Selbstgefühl
ringt, dann muss man sich auch seine Welt tastend erschließen. Wie sich
Sabines Obsession in Umklammerung und körperliche Beschädigung Brunos
übersetzen und die Kamera (Denis Lenoir, Assayas’ Kameramann der ersten
Stunde) selbst am liebsten in Großaufnahmen an den Charakteren klebt,
so versucht Stéphane, die Umbrüche und Krisen in seinem Leben taktil
zu be-greifen. Er bricht bei Natalia ein, weil er endlich zu seinem Kind will,
und verbringt dann die Nacht im Kinderzimmer, das Baby im Arm. Wenn er kurz
darauf fassungslos im Krankenhaus vor seinem aufgebahrten toten Vater steht,
ist sein erster Impuls auch ein zögerliches Hingreifen, so als würde
ihm erst die Berührung bestätigen, was er seinen Augen nicht recht
glauben will. Und als dann seine Schwester im Krankenhaus ankommt, entlädt
er seine Emotionen in einer Umarmung.
Ein Aus-dem-Zentrum-Rutschen - Mindestens genauso sehr wie die Beschwörung einzelner
Momente ist für Assayas auf der anderen Seite die radikale Raffung charakteristisch:
Auch L’Enfant de l’hiver ist erzählt in Ellipsen und abrupten Sprüngen, Rissen
innerhalb einzelner Sequenzen ebenso wie zwischen ihnen. Zum einen entstehen
so im Off des Films, zwischen den losen Szenenfolgen, Resonanzräume, wohin
die Handlungen und Wandlungen der Charaktere im Kopf des Zuschauers zurückhallen:
Die Charaktere sind nicht dieselben, müssen nicht dieselben sein, wie vorher,
denn inzwischen können sie ja auch Erfahrungen gemacht haben. (Ein Kunstgriff,
den Assayas in Fin août, début septembre (1998) und Les Destinées Sentimentales radikal zugespitzt hat.) Andererseits gibt genau diese Mischung
aus intensiver Wiedergabe und Weglassung schon eine Erfahrung wieder, ein Lebensgefühl
des diskontinuierlichen Schwankens zwischen "wichtigen" Momenten und
dahingelebter Zeit, das dem eigenen narrativen Selbstentwurf den Boden unter
den Füßen wegzieht: Die eigene Vita lässt sich nur mühsam
und unzureichend in ein konsistent erzählbares Stationendrama umformen,
die verschiedenen biographischen Kartographien (Bewerbungs-Lebenslauf, Berufsleben,
Beziehungsleben, (pop)kulturelle Selbstentwürfe…) lassen sich kaum mehr
zur Deckung bringen, ergeben, übereinander gelegt, keinen kongruenten Lebensentwurf.
Was übrig bleibt, sind einzelne, diskontinuierliche Ereignisfolgen, die
Biographie rutscht aus dem Zentrum, ins Off und in die Momentaufnahme.
Diese
Kritik ist auch erschienen in:
Das
Winterkind
L'
ENFANT DE L'HIVER
Karussell
der Leidenschaft
Frankreich
- 1988 - 84 min. – Drama - Verleih: NEF 2 - Erstaufführung: 2.11.1989/18.10.1994
ZDF –
Fd-Nummer:
27932 - Produktionsfirma: Gemini Films/G.P.F.I./Sofica Investimage
Produktion:
Paulo Branco
Regie:
Olivier Assayas
Buch:
Olivier Assayas
Kamera:
Denis Lenoir
Musik:
Jorge Arriagada
Schnitt:
Luc Barnier
Darsteller:
Clotilde
de Bayser (Sabine)
Michel
Feller (Stéphane)
Marie
Matheron (Natalia)
Jean-Philippe
Ecoffey (Bruno)
Gérard
Blain (Stéphanes Vater)
Anouk Grinberg (Agnès)
Ines
de Medeiros (Ana)
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