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Wintermärchen
"Für mich war der Traum Realität.
Eine abwesende Realität."
(Felicie)
Wie Schuppen scheint es der jungen Frau von den Augen
zu fallen, als sie das Staunen im Gesicht von König Leontes in Shakespeares
"Ein Wintermärchen" auf der Bühne beobachtet, dessen tot
geglaubte Frau Hermione plötzlich vor ihm steht. Aus der vermeintlichen
Statue wird wieder Hermione. Rasende Eifersucht hatte Leontes dazu getrieben,
seine schwangere Frau und seine Umgebung ins Unglück zu stürzen, weil
er glaubte, Hermione habe ein Verhältnis mit einem anderen. Und wenn Leontes
vorher verkündete, dass er ohne Erben bleiben werde, wenn das, was verloren
gegangen sei, nicht wieder auftauche, so drückt sich darin nicht nur die
Bitterkeit über das eigene Tun aus, sondern auch die zunächst vage
Erkenntnis, dass er wiedergutmachen müsse, was er angerichtet hatte.
Die junge Frau staunt - denn auch wenn ihre eigene
Geschichte nicht durch Mordgedanken und Eifersucht geprägt war, so doch
in gewisser Weise durch ein schuldhaftes Verhalten, einen Leichtsinn, der sie
einiges gekostet hat. Als sie Leontes sieht, als sie sieht, wie dem König
im wahrsten Sinn des Wortes eine große Last vom Herzen genommen wird,
als er Hermione lebend wiedersieht und die Familie wieder vereint ist - und
die Versöhnung mit seinem Widersacher glückt, da begreift die junge
Frau, was sie verloren hat, aber in ihrem Herzen wiedergefunden hat, um glücklich
sein zu können.
Die junge Frau heißt Felicie (Charlotte Véry).
Rohmer zeigt sie uns zu Beginn am Meer, im Sommer, in der Wärme, im Wasser
- mit einer Ferienbekanntschaft, einem Koch namens Charles (Frédéric
van den Driessche), der weitaus mehr wird als eine Ferienbekanntschaft. Charles
wird Felicies große Liebe. Und am Ende der gemeinsamen Zeit, als Felicie
wieder nach Paris zurückfahren muss, passiert etwas Leichtsinniges: Sie
gibt Charles eine falsche Adresse, sie verwechselt, ohne es zu merken, einen
Straßennamen, und Charles, der auf die Angabe vertraut, gibt ihr seine
Adresse nicht. Die Liebenden verlieren sich aus den Augen.
Fünf Jahre später treffen wir Felicie wieder.
Sie hat eine kleine Tochter - Elise (Ava Loraschi) -, deren Vater kein anderer
als Charles ist. Beide leben bei Felicies Mutter (Christiane Desbois). Felicie
arbeitet bei dem verheirateten, aber in Trennung lebenden Friseursalonbesitzer
Maxence (Michael Voletti) und hat ein Verhältnis mit ihm. Und sie lebt
(noch) mit dem Bibliothekar Loic (Hervé Furic) zusammen. Maxence will
nach Nevers umsiedeln und dort einen Friseursalon eröffnen. Und er will
Felicie mitnehmen. Die stimmt zu und eröffnet Loic daher, sie werde sich
von ihm trennen. Doch schon bald kehrt die junge Frau mit ihrer Tochter zurück
nach Paris; denn sie ist nicht glücklich in Nevers. Zu Loic will sie allerdings
auch nicht zurück ...
Wie in den anderen Filmen seines Vierjahreszeitenzyklus
("Sommer", "Eine
Frühlingserzählung",
"Herbstgeschichte") lotet Rohmer auch in "Wintermärchen"
die Bedingungen, Voraussetzungen und die Umstände aus, unter denen Glück
überhaupt möglich ist. Ohne Zweifel erzählen alle seine vier
Filme davon, dass dieses Glück nur möglich ist durch Liebe. Das mag
banal klingen. Doch verfolgt man seine vier Filme, ist dies alles andere als
selbstverständlich. Hinzu kommt die Überzeugung, dass eine Art Urvertrauen
und die Suche nach einem tieferen Glauben - an uns selbst und gegenüber
anderen - eine Art Grundbedingung eines glücklichen Lebens sind. Felicie
weiß genau, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie Charles, dessen
Nachnamen sie nicht kennt, jemals wiederfinden wird. Und Charles kennt weder
die richtige Adresse Felicies, noch ihren Nachnamen. Zu Loic sagt sie: "Es
kommt nicht darauf an, dass ich Charles wiedersehe. Er bleibt in meinem Herzen,
so dass dort kein Platz für jemand anders ist."
Rohmer zeigt uns Felicie in vielen Gesprächen
mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und vor allem mit Loic und Maxence. Beide
Männer wissen voneinander und sie kennen die Geschichte von Felicie und
Charles. Für beide Männer empfindet Felicie "so etwas" wie
Liebe - aber eben nicht jene, wie sie sagt, Liebe bis zum Wahnsinn, die sie
gegenüber Charles empfunden hat. Loic ist für sie zu intellektuell.
Seine Gespräche mit seinen Freunden über Philosophie langweilen sie
im Grunde. Zu ihrer Mutter sagt sie über Loic: "Ich möchte von
einem Mann physisch beherrscht werden, nicht intellektuell." Zu Maxence
sagt sie in Nevers, als der ein leeres Bücherregal in eines der Zimmer
gestellt hat: "Deine Bücher werden dieses Regal niemals füllen."
Dies scheint Ausdruck von Unentschlossenheit, von
Stimmungsschwankungen zu sein. Doch eher vermisst sie an dem "zahmen",
überaus sympathischen, aber sehr "kopflastigen" Loic die Körperlichkeit,
während sie an Maxence fehlenden Geist bemängelt. All das ist letztlich
Ausdruck davon, dass Felicie einen Mann im Herzen trägt, bei dem weder
Körperlichkeit, noch Geist ein Problem zu sein scheint, dass beider Beziehung beherrschen
würde. Bei Charles erfuhr sie Intelligenz wie Körperlichkeit als etwas
Natürliches, Gebendes, das sie nicht beherrscht.
Rohmers Geschichte von Felicie ähnelt nur sehr
grob Shakespeares "Ein Wintermärchen". Doch hier wie dort wurde
etwas schuldhaft verloren, wodurch Leid entstand, auch für andere. Nur
der Glauben an irgendeine Form der Wiedergeburt des Verlorenen hält bei
Shakespeare Leontes, bei Rohmer Felicie wirklich am Leben. In den Gesprächen
mit Loic und Maxence lotet Felicie die Grenzen und Bedingungen aus, unter denen
ihr Glück beschieden sein könnte. Auch hier findet sich eine Parallele
zu Shakespeare, denn Loic und Maxence werden in einem besonderen Sinn von Felicie
instrumentalisiert - wie auch Leontes seine Umgebung für sich in Anspruch
nimmt.
Die andere Seite dieser Instrumentalisierung ist
der trügerische Glaube beider Männer, sie könnten eine Frau lieben,
die sie nicht liebt. Sicher, Felicie mag beide, aber das, was sie mit Loic und
Maxence verbindet, ist letztlich nicht mehr als eine tiefe Freundschaft - immerhin,
aber für beide Männer eben mit einer tragischen Komponente für
sich selbst verbunden. Dies macht auch deutlich, dass Liebe nicht nur ein Gefühl
ist, und dass ein solches Gefühl nicht unbedingt etwas Authentisches sein
muss. Bei beiden Männern wird deutlich, dass sie sich mit ihren Gefühlen
für Felicie "verrannt" haben. Während Maxence - allein in
Nevers zurückgelassen - die Welt nicht mehr versteht, weil er seine eigenen
Gefühle und die Felicies letztlich nicht versteht, wird der Intellektuelle
Loic von der fadenscheinigen Hoffnung beherrscht, Felicie zurückgewinnen
zu können - obwohl er sie niemals "hatte".
Es scheint etwas Morbides an sich zu haben, wenn
Leontes erhofft wiederzufinden, was er für tot hält (seine Frau Hermione);
es scheint auch etwas Morbides an sich zu haben, wenn Felicie über einen
Markt in Paris läuft, weil sie Charles gesehen zu haben glaubt. Doch beider
Streben ist nicht so sehr, das Verlorene wiederzufinden, sondern etwas im Herzen
zu bewahren, was nur durch Verdrängung (mit den damit verbundenen Schmerzen)
und daher Selbstaufgabe getilgt werden könnte. Das wollen beide nicht.
Dass Felicie am Schluss - in einem typischen (?)
Rohmer'schen "filmischen Anflug von Zufall" - in einem Bus Charles
wiederfindet, erweist sich zunächst als Schrecken für sie. Nie hätte
sie geglaubt, Charles je wiederzusehen. Das Happyend - die Frau, die ihren Mann
wiederfindet, die Tochter, die ihren Vater findet - gleicht jedoch in keiner
Weise einem Hollywood-Happyend. Es symbolisiert eher die Erfüllung jenes
Urvertrauens und jenes tiefen Glaubens, um die es Rohmer geht. Für Felicie
war Charles der Traum - eine Realität - eine abwesende Wirklichkeit, eine
Wirklichkeit im Herzen. Der Schluss des Films ist geradezu "nüchtern-glücklich".
Im Abspann sieht man, wie die Familie das Wiedersehen feiert.
DVD
Format:
Dolby, HiFi Sound, Letterboxed, PAL
Sprache: Deutsch,
Französisch
Untertitel: Deutsch
Region: Region 2
Bildseitenformat:
1.66:1
FSK: Freigegeben
ab 6 Jahren
Studio:
Kinowelt Home Entertainment/DVD
DVD-Erscheinungstermin:
6. Oktober 2006
Eric Rohmer über
seinen Film
"Wintermärchen"
ist der einzige der vier Filme des Jahreszeitenzyklus, der auf einer deutschsprachigen
DVD bei Kinowelt erschienen ist und ein Interview mit dem Regisseur über
seinen Film enthält. Zu bemängeln ist allerdings die Bildqualität
der DVD; offenbar wurde das Filmmaterial für die Edition nicht neu bearbeitet.
Für Liebhaber Rohmers ist es empfehlenswert, den Film in französischer
Sprache mit Untertiteln anzusehen.
Ulrich Behrens
Dieser Text ist zuerst erschienen
in:
Wintermärchen
(Conte
d'hiver)
Frankreich
1992, 114 Minuten
Regie:
Eric Rohmer
Drehbuch:
Eric Rohmer
Musik: Sébastien
Erms
Kamera:
Luc Pagès
Schnitt:
Mary Stephen
Darsteller:
Charlotte Véry (Felicie), Frédéric van den Driessche (Charles),
Michael Voletti (Maxence), Hervé Furic (Loic), Ava Loraschi (Elise),
Christiane Desbois (Mutter)
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