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Wir Wunderkinder
Der kleine Steppke will gerade
den Bogen an seine Dreiviertelgeige setzen, da wird er von Wolfgang Neuss rüde
aus dem Kinosaal gewiesen: Kurt Hoffmanns Deutschland-Revue, für die dieser
Trailer warb, war nichts für Wunderkinder. Und die kamen im Film auch gar
nicht vor. „Wir Wunderkinder“, nach dem Roman von Hugo Hartung, nahm Durchschnittsfiguren
aufs Korn. „Es ist ein Wunder, dass wir Kinder des 20. Jahrhunderts noch leben“,
erläutern die „Conférenciers“ dieser Deutschland-Revue den Titel
– es sind die Kabarettisten Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss, die mit
ihren Zwischenrufen und Couplets dem Rückblick auf 30 Jahre deutscher Geschichte
seine besondere Würze geben. Der Filmsatire „Wir Wunderkinder“, die nun
ordentlich in Bild und Ton restauriert, aber eher knapp mit Bonusmaterial ausgestattet
auf DVD erschienen ist, kommt nicht nur künstlerische, sondern auch besondere
historische Bedeutung zu: Derart unverblümt wie hier wurde selten im Nachkriegskino
über Hitler und seine Gefolgschaft gelästert – und darüber, wie
die alten Nazis sich in neuen Positionen breit machten.
„Was mir vorschwebte, war die
ausgewogene Mischung von Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung“, erklärte
Regisseur Kurt Hoffmann (1910-2001), der mit Wolfgang Staudte und Helmut Käutner
zu den bedeutendsten Regisseuren der unmittelbaren Nachkriegszeit gehörte.
Für heutige Ansprüche mögen die Anspielungen auf den Holocaust
(den eine jüdische Nebenfigur überlebt), auf Naziterror und Bombenkrieg
allzu verhalten ausfallen. Für die ambitionierten Macher der „Wunderkinder“
war
diese Art, historische Ungeheuerlichkeiten und politische Kommentare in eine
private Liebes- und Rivalengeschichte einzubauen, der einzig gangbare Weg, um
überhaupt ein großes Publikum zu erreichen.
Das aus Jungstars und alten Komödianten
wie Liesl Karlstadt oder Elisabeth Flickenschildt gemischte Ensemble kann sich
heute noch sehen lassen. Und der junge Hansjörg Felmy durfte als sympathischer
Feuilletonist Boeckel endlich die schneidigen Militär-Rollen abstreifen,
auf die er zuvor abonniert war. Boeckel ist ein von der braunen Politik angewiderter
Schöngeist und Literaturkritiker, der die Zeichen der Zeit dennoch übersieht
und ohnehin von der Liebe zu zwei schönen Frauen (Wera Frydtberg und Johanna
von Koczian) vollkommen absorbiert ist. „Innere Emigration“ wird hier als edelmütiges
Verhalten präsentiert, während die stille Mehrheit der Mitläufer
im Film nicht vorkommt.
Dafür tritt natürlich
der aalglatte Nazi auf, trefflich gespielt von Hans Graf (dem 1966 früh
verstorbenen Vater von Dominik Graf). Dieser Bruno Tiches ist Boeckels gerissener
Schulfreund, der zum NS-Hauptstellenleiter und später zum „unpolitischen“
Kriegsgewinnler mutiert. Dass Tiches kurz nach dem Krieg flugs wieder obenauf
und hoch angesehen ist, entsprach der weithin verdrängten Wirklichkeit:
viele Altnazis wechselten einfach Namen und Identität. Schwamm drüber.
Auf ins Wirtschaftswunder! „Jetzt gibt´s im Laden / Karbonaden schon /
und Räucherflunder“, reimen „Die zwei Wolfgangs“ mit aufgesetzter Fröhlichkeit.
Und auch das faule „Happy End“ dient ihnen als Anlass einer gesellschaftskritischen
Bestandsaufnahme der späten 50er Jahre: Bevor der einflussreiche Tiches
nämlich den kritischen Journalisten Boeckeler mundtot machen kann, stürzt
er in einen Fahrstuhlschacht. Wolfgang Neuss’ Nekrolog lautet folgendermaßen:
„Bruno Tiches ist verschieden. Aber Verschiedene seines Schlages leben weiter.
So viele Fahrstühle können ja auch gar nicht repariert werden.“
Jens Hinrichsen
Dieser Text ist
zuerst erschienen in: film-dienst 10/2007
Wir Wunderkinder
BR Deutschland - 1958 - 107 min. – schwarzweiß - Verleih:
Constantin - Erstaufführung: 28.10.1958/3.5.1959 Kino DDR/18.11.1959 DFF
1/6.10.1964 ARD - Produktionsfirma: Filmaufbau - Produktion: Hans Abich, Eberhard
Krause
Regie: Kurt Hoffmann
Buch: Heinz Pauck, Günther Neumann
Vorlage: nach dem Roman von Hugo Hartung
Kamera: Richard Angst
Musik: Franz Grothe
Schnitt: Hilwa von Boro
Darsteller:
Johanna von Koczian (Kirsten Hansen)
Hansjörg Felmy (Hans Boeckel)
Wera Frydtberg (Vera von Lieven)
Elisabeth Flickenschildt (Frau Meisegeier)
Jürgen Goslar (Schally Meisegeier)
Ingrid van Bergen (Evelyne)
Liesl Karlstadt (Frau Roselieb)
Lina Carstens (Bäuerin Vette)
Robert Graf
Eine DVD des Films ist erschienen bei: Kinowelt
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