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Wolfsburg
(Berlinale-Kritik)
Die
erste Szene: ein Mann in einem Auto, am Telefon seine Frau, sie streiten sich.
Sie legt auf, das Handy fällt zu Boden, der Mann hebt es auf, ist abgelenkt,
ein Schlag. Er hat einen Jungen überfahren, er zögert einen Moment
und er fährt weiter. Aus dieser in ihrer scheinbaren Einfachheit meisterhaften
ersten Szene entwickelt Christian Petzold seinen Film. Autos, Liebe, der Unfall,
die Schuld, so präzise platziert wie unaufdringlich bestimmen diese Motive
den weiteren Verlauf.
Der
Junge wird sterben, wenig später, im Krankenhaus. Der Verlust verwundet,
beinahe tödlich, die Mutter, Laura (Nina Hoss, kaum wiederzuerkennen mit
schulterlangem dunklen Haar) – aber auch Philip (Benno Fürmann), den Täter,
der mehrmals kurz davor ist zu gestehen, der Polizei erst, dann seiner Frau.
Es kommt nicht dazu. Er beginnt, sich Laura zu nähern, begegnet ihr, folgt
ihr, rettet sie sogar aus dem Fluss. Sie ist von der Brücke gesprungen.
Alles setzt er aufs Spiel, seine Ehe, seinen Job. Er versucht, gutzumachen,
was nicht gutzumachen ist, zu sühnen – und Laura zu helfen. Das eine ist
vom anderen nicht zu trennen. Unversehens gerät er so, geraten sie beide
in eine Beziehung, an der nicht alles falsch ist, aber das Entscheidende: ihre
Voraussetzungen.
Petzold
erzählt das, wie man es von ihm kennt. Nüchtern, in Einstellungen,
die sich auf die Figuren, die Gesichter konzentrieren und ihren Ort im Raum.
Es wird nicht viel gesprochen, spröde Sätze nur, die Annäherung
zwischen Philip und Laura vollzieht sich nach und nach. Was sie fühlen,
müssen wir ihnen ansehen, die Figuren leben aus dem, was uns verborgen
bleibt. Das tut unendlich wohl nach allen krampfhaften Motivierungsversuchen,
denen man sich eine Woche lang ausgesetzt gesehen hat, nach all dem zu viel
und zu deutlich Gesagten. Und Balsam für die Seele auch die Stille, der
Verzicht auf Musik die meiste Zeit. Einmal nur, zwischendurch, weht verzerrte
Orgelmusik von irgendwo her. Erst am Ende, das man wohl als Erlösung sehen
muss, als eine Sühne, die nicht ausbleiben kann, zweimal (wie in Chéraus
„Son
Frère“),
und umso wirkungsvoller, Musik, die nicht untermalt, nichts erzwingt, sondern
ganz im notwendigen Pathos der Situation aufgeht.
Christian
Petzold ist ein Regisseur, dessen ungeheure filmische Intelligenz in den Bildern
steckt, in den Figuren, im kunstvollen Einsatz unscheinbarer Motive – und in
der Erzählstruktur. Klüger kann man seine Ellipsen nicht setzen: eine
Reise nach Cuba, die wichtig ist, wird nicht gezeigt. Es ist das, diese Auslassung,
das ausgefallene und gerade darin überzeugende Bild für eine Ehe,
eine Beziehung, die am Ende ist. Kein Schnitt auch, in der Anfangsszene, auf
die Frau zu Hause. Diese Details sind es, an denen sich der Meister zeigt. Einmal
ist Philip in der Nahaufnahme im Bild, er fährt, auf dem Rücksitz
zieht Laura sich um, sie ist auf dem Weg zur Arbeit. In der Unschärfe fast
sieht man im Rückspiegel seinen Blick, kurz nur, auf Laura. Petzold denkt
nicht daran, hier etwas zu unterstreichen. Er kommt dem Zuschauer nicht entgegen.
Er setzt auf seine Intelligenz, und das zahlt sich aus. Es gab, neben „Son
Frère“,
keinen Film auf der Berlinale, der mit so reinen Mitteln großes Kino ist.
Um den Verstand einer Auswahlkommissin, die „Wolfsburg“ ins Panorama gesteckt
hat, ist zu fürchten.
Ekkehard
Knörer
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Christian
Petzold: Wolfsburg (D 2003)
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