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Wolfzeit
Ganz schwarz ist die Leinwand. Nur eine verzweifelte Stimme hört
man in die Nacht rufen: Es ist die Stimme der Mutter Anne (Isabelle Huppert),
die ihren verschwundenen Sohn Ben (Lucas Biscombe) sucht. Die Hoffnungslosigkeit
des Augenblicks spiegelt sich in der alles verschlingenden Dunkelheit, in der
Michael Haneke seine Charaktere herumirren lässt. Ganz ohne künstliche
Lichtquellen hat er diese Sequenzen gedreht, und darum sieht man auch nur winzige
Lichtpunkte, wenn etwa das rettende Feuerzeug die Nacht ein wenig erleuchtet.
Man ist gebannt in den Szenen, in denen Hupperts Charakter mit ihren
beiden Kindern in ein Leben schlittert, das undenkbar erscheint. Als sie die
Tür zum Erholung versprechenden Feriendomizil geöffnet hatte, wurde
sie mit ihrem Mann von einem Fremden überrascht, der ihre Wohnung in Besitz
genommen hatte. Und wenn dann nach wenigen Filmminuten der Familienvater bereits
erschossen worden ist und die Mutter mit ihren Kindern in der Dunkelheit zu
verzweifeln beginnt, weiß man, dass man in einem Film von Haneke sitzt.
Nur wenige andere Regisseure gehen so unbarmherzig mit ihren Charakteren um,
nur wenige andere schaffen es, dem Zuschauer die erzählerische Faust so
tief in den Magen zu rammen.
Es wird in Wolfzeit nie erklärt, was eigentlich geschehen ist, in der
seltsam veränderten Welt, in der die um den Vater dezimierte Familie sich
befindet: die Zivilisation, die man gewohnt war, existiert offenkundig nicht
mehr, technische Errungenschaften werden - von der einzigen Informationsquelle
Radio abgesehen - nutzloses Schmuckwerk, was zählt, sind nur noch Stärke
und die Fähigkeit, sich in einer verwildernden Gemeinschaft durchzusetzen.
Leichen liegen in den Feldern, und die wenigen, die - was auch immer geschehen
ist - überlebt haben, begegnen einander mit tiefstem Mißtrauen.
Anne findet ihren Sohn wieder, am nächsten Morgen, aber er ist
verstummt und bleibt auch für den Rest des Filmes stumm. Dafür hat
er einen anderen Jungen (Hakim Taleb) in der Dunkelheit entdeckt, der sich der
Familie anschließt und mit ihnen einen leer stehenden Bahnhof ausfindig
macht, in dem wenige andere Überlebende sich zusammengefunden haben. Hier
verbringt Haneke den Hauptteil seiner Zeit: in der Gesellschaft, in ihren Konflikten,
ihrer Gewalt, ihrem scheinbar ganz natürlich entstehendem Patriarchat,
das sich um den großartig fiesen Koslowski (Olivier Gourmet) zu gruppieren
beginnt. In der Zeichnung der Gruppe verliert
der Film ein wenig an Intensität, Haneke schildert zwar ausführlich
die brutalen Auseinandersetzungen, die sich an den altbekannten Grenzen um Nationalität,
Reichtum, Stärke und Alter entzünden, aber am eindrucksvollsten bleibt
er immer dort, wo er mit den Hauptfiguren allein ist. Als Isabelle Huppert durchs
Dunkel irrte, war man ihrem Charakter, ohne ihn zu sehen, näher, als man
ihm später in den Wirren der Gruppendynamik je wieder sein wird. Ähnlich
nah kommt der Regisseur auch der Tochter der Familie, Eva (Anaïs Demoustier).
Auch dies geschieht nur, weil sie gezeigt wird, wenn sie allein ist, mit sich,
mit ihren Gedanken und Ängsten: sie schreibt in dem verlassenen Bahnwärterhäuschen
einen Brief an ihren ermordeten Vater. In diesem Brief offenbart sich all die
Verlorenheit, die sie - und vermutlich alle um sie herum - in der Situation
spüren, in der es keine Ankerpunkte mehr gibt, keinen Halt. Es offenbart
sich ihr Unverständnis über die ungewisse Ursache all des Leids und
es offenbart sich der Zusammenbruch der Familienstruktur durch den plötzlichen
Tod des Vaters.
Aber auch wenn Haneke die intimen Momente der Familie überzeugender
inszeniert, so bleibt durchaus der Teil von Wolfzeit beeindruckend, der sich der Gruppendynamik nach dem
Ende der Zivilisation annimmt: durchschnittene Tierkehlen, Vergewaltigungen
- einige der Bilder, die Haneke zeigt, sind so verstörend, dass man sich
die schwarzen Bilder vom Beginn des Films zurück wünscht, in denen
sich zwar Personen und das Auge des Zuschauers verlieren konnten, die aber durch
ihre beschreibbare Leere zumindest noch einen Platz ließen, ein wenig
Freiraum, in den man etwas Hoffnung hineinlesen konnte - die Hoffnung, die am
Ende von Wolfzeit zu einem Luxus wird, den sich niemand mehr leisten kann.
Benjamin Happel
Diese Kritik ist zuerst erschienen in:
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Kritiken
Wolfzeit
(Le temps du loup, Frankreich 2003)
Regie/Drehbuch:
Michael Haneke
Darsteller:
Anne:
Isabelle Huppert
Eva:
Anais Demoustier
Ben:
Lucas Biscombe
Junge:
Hakim Taleb
Thomas
Brandt: Patrice Chereau
Lise
Brandt: Beatrice Dalle
Koslowski:
Olivier Gourmet
M.
Azoulay: Maurice Benichou
Jean:
Thierry van Werveke
Kinostart am 01.01.2004 im Verleih der Ventura Film.
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