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Wolfzeit
Le
Temps du Loup
ist ein Film mit einem, vielleicht zwei, typischen Haneke-Momenten. Jenen eisigen
Gewaltsekunden, steifgefrorenen Momenten der Erschütterung, den Rissen
in der Zeit- und Raumwahrnehmung als Reaktion auf das Ungeheuerliche. Es sind
Augenblicke, die ganz fundamental aus der eigenen Unbegreiflichkeit heraus geboren
werden und darin ihre Stärke entwickeln. Deswegen ist Haneke auch ein Gewaltregisseur,
weil das Einbrechen, die Intervention, eben die Gewalt sein Bewegungsfeld sind.
Das ist der Kick seiner Filme - die Vergewaltigung des Beständigen aus
dem Beständigen selbst heraus. Frage: "Warum tut ihr uns das an?"
- Antwort: "Warum nicht?" Ein faktischer Gleichstand an Plausibilität,
wie es scheint; die unerklärliche Frage wird auf sich selbst zurückgeworfen.
Das ist so wie "Warum sind wir hier?" und "Warum nicht?".
Und doch fragt der Gefolterte den Folternden und gleichzeitig der Familienvater
den ausgesprochen netten jungen Mann aus der Nachbarschaft. Deshalb sind seine
Filme brutal, weil das Furchtbare mit der Gewöhnlichkeit auf demselben
Nährboden wächst und sich über weite Strecken nicht von ihr unterscheidet.
Hanekes
neuester Film hat ein solches Moment gleich ganz zu Beginn: Eine Familie (Vater,
Mutter, Sohn und Tochter - standardisiert eben) fährt zu einem kleinen
Haus im Wald, packt Vorräte aus und betritt das Gebäude. Drinnen ein
Mann mit einem Gewehr im Anschlag, seine Frau und sein Sohn neben ihm. Die Kinder
der ankommenden Familie werden hinausgeschickt, der Fremde erschießt den
Vater. Dann, genau hier, findet Haneke das eine Bild, das die vierte Wand zum
Einstürzen bringt und uns mitten aus der Beständigkeit einer alltäglichen
"moviegoing-experience" (und ja, die geht durchaus noch bis zur Erschießung
eines Familienvaters) herauszerrt: Nahaufnahme des Gesichts der Mutter, an der
rechten ihrer aschfahlen, beigen Wangen ein Hauch von Blut - wie mit einem Parfumzerstäuber
aufgetragen. Aussehend wie Make-Up, wie eine kleine Aufhellung ihres eisigen
Gesichts. Sie wendet den Kopf und dann übergibt sie sich und ihr Erbrochenes
hat die Farbe ihres Gesichts. Sie kotzt über der Leiche ihres Mannes und
da schon sind wir mitten in dem, was Haneke kann: Gewalt in Stein schlagen.
Das Problem der Sequenz: Sie kommt früh, sie setzt Erwartungen und vor
allem - und da wird es für den Film wirklich problematisch - sie kommt
nicht allein. Denn um das Grauen der Tötung des Vaters legt sich, gleichsam
einer diese Bagatelle mit Leichtigkeit beiseite schiebender Hand, das große
Drama der Apokalypse, der Endzeit, des jüngsten Gerichts aus einer verhärmten
Distanz.
Erstaunlich,
mit welcher Souveränität Haneke hier seiner größten Stärke
das Grab schaufelt: Denn ab hier gibt es keine Einbruchsmöglichkeiten mehr.
Wir befinden uns schließlich mitten im Super-GAU und der Katastrophenberg,
wie er sich in Hanekes stärksten Werken so subtil und schleichend auftürmt,
ist nach wenigen Minuten schon so hoch, dass wir am Wegesrand der Reise der
drei verbliebenen Familienmitglieder geradezu liebliche Motive arg kategorisierbarer
Filme vorfinden: In Brand gesetzte Tierkadaver, bewaffnete Wasserhändler,
rassistisch motivierte Streitereien unter den versammelten Überlebenden,
Nachrichten von düsteren Geschehnissen in der Ferne. Dass Haneke überhaupt
fähig sei, einem seiner Charaktere den Begriff des "Pollacken"
in den Mund zu legen, ist auf ernüchternde Weise gerade dann fast belustigend,
wenn man sich die strenge Rassimusreflexion aus Code
inconnu
in den Geist ruft, die jeden Ansatz des Plakativen im Keim zu ersticken suchte.
Überhaupt scheint Haneke ständig nach etwas zu suchen, das es dem
Ausgangsmoment an Intensität gleichtut. Er streut ein Zusammentreffen der
Mutter mit dem Mörder ihres Mannes ein, zeigt wie einem Pferd unter einem
Schwall von Blut der Hals aufgeschnitten wird und auch - freilich unter eifriger
Verwendung der Unschuldsmetaphorik des kindlichen Wesens - die Opferbereitschaft
des kleinen Sohnes der Familie zur Rettung der Welt. Alles nicht echt. Denn
leider hat sich das Beständige bei uns hier schon längst wieder über
alles gelegt, was wir sehen. Der Code ist nicht mehr unbekannt, sondern nur
allzu verständlich und von uns vollkommen akzeptiert in der x-fach gezeigten
Semiotik des Untergangs. Eine weitere Haneke'sche Essenz verspielt sich hierin:
Er trifft uns nicht mehr. Alles, was folgt, ist leer und eitel in der Durchführung.
Gen Ende dann kommt man vom Gedanken nicht los, auch noch etwas verplättet
bekommen zu haben: Die Moralinjektion, von der sich Haneke zuletzt wohltuend
wegentwickelt zu haben schien - da ist sie wieder, in den beiden letzten Einstellungen,
komponiert aus einer heiligen Tat im Wollen und der Erlösung aller, zumindest
im Mikrokosmischen. Und die vierte Wand steht ungefährdet.
Janis
El-Bira
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei: www.MovieMaze.de
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diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
Wolfzeit
(2003)
(Le temps du loup)
Regie: Michael Haneke
Premiere: 20. Mai 2003 (Cannes
Film Festival, Frankreich)
Drehbuch:
Michael Haneke
Dt.Start: 01. Januar 2004
Genre: Drama FSK: ab 12
Land: Frankreich, Deutschland, Österreich
Länge: 123 min
Cast:
Isabelle Huppert (Anne), Maurice Benichou (Herr Azoulay), Lucas
Biscombe (Ben), Patrice Chéreau (Thomas Brandt), Béatrice Dalle
(Lise Brandt), Anais Demoustier (Eva), Daniel Duval (Georges), Marilyn Even
(Frau Azoulay), Olivier Gourmet (Koslowski), Rona Hartner (Arina), Florence
Loiret Caille (Nathalie Azoulay), Brigitte Rouan (Béa), Branko Samarovski
(Polizist), Hakim Taleb (junger Ausreißer), Thierry van Werveke (Jean),
Michael Abiteboul (bewaffneter Mann), Pierre Berriau (Mann im Chalet), Costel
Cascaval (Constantin), Luminita Gheorghiu (Frau Homolka), Franck Gourlat (Wasserverkäufer),
Francois Hautesserre (Musikliebhaber), Maria Hofstätter (streitsüchtige
Frau), Valérie Moreau (Frau im Chalet), Serge Riaboukine (Führer),
Claude Singeot (Rasierklingenmann), Ina Strnad (Kind im Chalet), Adriana Trandafir
(Marya)
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