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Wolfzeit
Gutbürgerliche
Wochenendausflüge mit Tier und Kegel sind in Michael Hanekes Filmen mit
Vorsicht zu genießen. Das weiß man seit Funny
Games
(Österreich 1997). Die Stimmung in der hier beobachteten Familie scheint
von Beginn an etwas gedämpft: Wortkarg, wenn nicht verschreckt reserviert
räumt man den Wagen aus, das mitten im Wald gelegene Häuschen erweckt
kaum Vertrauen. Heimelig ist das hier nicht, auch sehen Wochenendausflüge
meist anders aus, werden freudiger begangen. Warum trägt der Kleine seinen
kleinen Vogel im Käfig mit sich? Man scheint länger bleiben zu wollen.
Drinnen dann der Schock: Das Haus ist besetzt, eine andere Familie hat sich
eingenistet. Man wird bedroht, mit Waffengewalt geplündert. Unvermittelt
dann ein Schuss, der Vater: tot. Die Mutter Anne (Isabelle Huppert) darf mit
Sohn Ben (Lucas Biscombe) und Tochter Eva (Anais Demoustier) das Gelände
verlassen, was stutzig macht. Wäre es nicht im Sinne der Mörder, Zeugen
aus dem Weg zu räumen, sie zumindest in Gewahrsam zu halten?
Eine
Welt nach dem Zusammenbruch sozialer Verbindlich- und Verlässlichkeiten.
Haneke zeichnet sein offenbar apokalyptisches Szenario nicht als historisch-politischen
Weltentwurf, sondern in Form einer Verschiebung oft kleinster kultureller Details
der individuellen Alltagswahrnehmung: Die Überlebenden dieses Gewaltausbruchs
ziehen wie Flüchtlinge durch nebeldiesige Bildlandschaften, schlagen verzweifelt
an die Türen der einstigen Nachbarn, in deren Fenstern noch Licht brennt,
allein die Türen bleiben verschlossen. Auf dem Marktplatz im Dorf werden
Kühe auf einem Scheiterhaufen verbrannt, hier und dort findet sich eine
gnädige Seele, die ein wenig Essen spendet. Man habe ja selbst eigentlich
nichts, fügt man noch hastig hinzu, das Gesicht bleibt dem Bildkader vorenthalten.
Allenthalben herrscht Misstrauen, Angst, Kälte. Was geschehen war, wie
es dazu kommen konnte: Das interessiert Haneke nicht, noch nicht mal in Form
von Andeutungen. Politische, soziale und historische Sphären sind in Wolfzeit
von keiner Bedeutung. Hier soll es um Universelles gehen, Gedankenexperiment
also, Aussagen über den Mensch als solchen.
Und
dieser ist, so sagt man gerne, sich selbst ein Wolf. Ganz so absolut scheint
Haneke das nicht ausdrücken zu wollen, stellt es aber zumindest als einen
von vielen Aspekten in den Raum. Ein namenlos bleibender Junge (Hakim Taleb),
der durch die Wildnis streift, schließt sich den drei Desolaten an, wenn
auch stets in Distanz verweilend. Ein Hund hat ihm in die Hand gebissen, er
selbst erscheint als streunender Hund zwischen interessiertem Schnuppern, Argwohn
und offener Aggressivität. Er plündert herumliegende Leichen, untersucht
Tierkadaver, ob sich da nicht noch was Essbares fände, stiehlt und legt
den Dreien Gleiches nahe. Zusammen findet man, in einem stillgelegten Bahnhof,
eine kleine Gemeinde des Elends, die sich, gleichsam als Gegenentwurf zum atomisierenden
Egoismus des Jungen, mittels selbstauferlegter Regeln ein wenig soziale Heimeligkeit
zurückerobern möchte. Hier findet man, wenn schon kein Zuhause, doch
ein klein wenig Tröstlichkeitssurrogat für das zoon politikon, das
Gesellschaftswesen. Der Junge umkreist diese Kommune argwöhnisch wie ein
Trabant, bleibt in den nahen Wäldern verschanzt, nachdem er sich nach der
Ankunft umgehend als Dieb profilieren musste und, sofern sich die Gelegenheit
bietet, dies auch bleibt.
Dass
diese Kommune keineswegs einem Paradies der Postapokalypse entspricht, ist so
naheliegend wie schnell ersichtlich. Die Knappheit der Ressourcen sorgt für
Spannungen untereinander, soziale Konflikte bilden sich, zumal dann, wenn alte
Ressentiments - Redneck-Prototypen mit geschulterter Flinte treffen auf einen
polnischen Einwohner ihrer früheren Gemeinde - aufbrechen. Neue Mythen
werden, am Rande, in den Raum gestellt: Die 36 Gerechten, die Brüder des
Feuers, allesamt mehr oder weniger Versuche, in der Sinnlosigkeit dieser neuen
Existenzform sinnstiftend zu fungieren. Und wer nicht handeln kann, kann, als
Frau, auch andere Dienste anbieten. Bald schon ist diese neue Gemeinde auf imposante
Größe angewachsen, zusammen wartet man an den Gleisen auf den rettenden
Zug, der sie aus diesem Jammertal holen würde - unter diesen Wartenden
bald auch die Mörder des Vaters und Gatten.
Man
kann Haneke kaum vorwerfen, seinen Film nicht mit der üblichen Sorgfalt
inszeniert zu haben. Ganz im Gegenteil zeichnet sich Wolfzeit
durch den gewohnt besonnenen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel
aus. Haneke verteilt die üblichen Spitzen gegen etwaige Behaglichkeiten
im Kinosaal und fordert damit emotional heraus. Dass er das kann, dass er es
hier, wie immer, tut, sei unbestritten. Seine Bilder sind trostlos, grau, nicht
selten gar zur Gänze schwarz, weil nur mit Naturlicht gedreht wurde und
vieles nachts stattfindet. Doch die Nähe zu den Figuren, die das impliziert,
das Sich-Winden auf dem Kinostuhl, wenn Haneke seine Geschichte vom Weltverlust
und dem Verfall des Menschen unter diesen Bedingungen erzählt, all das
führt zu nichts, bleibt lediglich Betrug am Zuschauer.
Das
recht alte Gedankenexperiment, das hier fortgeführt werden soll, erscheint
durch Hanekes moralische Lektion weder ergänzt noch sind die Schlussfolgerungen
sonderlich originelle: Dass der Verlust sozialer Verbindlichkeiten ressourcenökonomische
Prekärsituationen nach sich zieht, entsprechend Menschen, der Natur nun
ausgeliefert, zu Bestien zu machen in der Lage ist, dass der Mensch als solcher
dadurch zerrieben wird, verloren geht, das hat sich Haneke beileibe nicht selbst
ausgedacht, sondern ist grundlegendes Element jeder apokalyptischen Erzählung
in Kino und Literatur der letzten Jahrzehnte. Gerade und besonders auch in den
Haneke verhassten Genrefilmen. Dass Tiere, Alte, Kinder sowohl körperlich
wie auch emotional und psychisch unter solchen Bedingungen erste Opfer wären,
Familienstrukturen sich aufreiben, Verzweiflungstaten bis hin zum Selbstmord
und -opfer Konjunktur haben und, letztendlich, die offenkundige Verzweiflung
des beschwörenden "Alles wird gut!" zum letztmöglichen Strohhalm
wird, all das ist ebenso wenig neue Erkenntnis und deshalb, was die bloße
Aussagekraft betrifft, bestenfalls redundant, eigentlich schon banal.
Und
so widerfährt Wolfzeit,
der so überaus vielversprechend beginnt, das schlimmste, was einem Film
mit dieser Intention geschehen kann: Er wird im Verlauf, wiewohl nicht in narrativen
Details, so doch aber im wesentlichen sträflich erahnbar. Die Spitzen,
die fast schon genüsslich verteilt werden, die Drastik der Bilder, wenn
etwa einem Pferd vor laufender Kamera die Kehle aufgeschlitzt wird, und die
so strikte wie angesichts des Stoffes auffällige Verweigerung einschlägiger
Genrekonzessionen scheinen allesamt bloß einem einzigen Zweck verpflichtet
zu sein: Der Inszenierung ihres Urhebers als von sich eingenommenem Mahner zur
Moral, als Erretter der Filmkunst vor dem Profanen des Genre-Einerlei. Das ist,
gelinde gesagt, zu wenig.
Thomas
Groh
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei filmtagebuch.blogger.de
und Jump
Cut
Zu
diesem Film gibt’s im archiv
der filmzentrale mehrere Kritiken
Wolfzeit
(Le temps du loup, Frankreich 2003)
Regie/Drehbuch:
Michael Haneke
Darsteller:
Anne:
Isabelle Huppert
Eva:
Anais Demoustier
Ben:
Lucas Biscombe
Junge:
Hakim Taleb
Thomas
Brandt: Patrice Chereau
Lise
Brandt: Beatrice Dalle
Koslowski:
Olivier Gourmet
M.
Azoulay: Maurice Benichou
Jean:
Thierry van Werveke
Kinostart
am 01.01.2004 im Verleih der Ventura Film.
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