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Wolfzeit
Ausnahme
und Regel
"Eine
Frage, die man sich immer
wieder stellen
muss lautet: Warum
macht einer
einen Film? Wenn er ihn
glamourös
machen will, so sind seine
Ziele klar:
die Zerstreuung anderer
und das Geld.
Wenn man Film als Kunstform
sehen will,
dann kann man das aber
nicht tun.
Weil es eine Lüge ist, und
die Lüge
ist das Gegenteil der Kunst."
(Michael Haneke)
"Zusammenbruch" bezeichnet
einen Prozess des schleichenden, aber umso deutlicher werdenden Verlusts an
Kommunikation und Gewinns an Gewalt. Dabei ist unerheblich, ob es sich um einen
gesetzten oder scheinbar willkürlichen Vorgang handelt,
- um das, was der von Hitler so
faszinierte Staatsrechtler Carl Schmitt als Ausnahmezustand feierte,
- um die verbreitete Angst des
Zusammenbruchs zivilisatorischer Strukturen, die sich in immer weiteren Varianten
von Sicherheitsideologien eine Art Rettungsventil zu schaffen sucht, oder
- um die existentielle Angst des
Individuums vor dem Verlust der eigenen Subjektivität in einer Welt, in
der der Begriff Sicherheit nur eine fahle Umschreibung defizitärer sozialer
Zusammenhangsstrukturen mehr notdürftig bezeichnen kann.
Das Hollywood-Kino verortet solche
Destruktionsprozesse zumeist in bombastischen, in modernste technische Möglichkeiten
gekleidete Phantasiegebilde, deren Abschluss regelmäßig eine gewollt
konstruierte Form von Erleichterung bildet, eine scheinbare Erlösung von
den realen Ängsten. Zu diesen, im weitesten Sinn des Wortes "Katastrophenfilmen"
kann man stehen, wie man will. Vielleicht implementieren sie eine der modernen
Gesellschaft inhärente und in gewisser Weise auch notwendige geradezu psychotherapeutische
Komponente, so, wie das Individuum in gewissen Situationen ebenfalls der fremden,
kompetenten Hilfe bedarf.
Michael Hanekes "Wolfzeit"
geht da einen ganz anderen Weg. Der Film ist allem Pomp, allen Übertreibungen,
allen übertriebenen Dramatisierungen, Knalleffekten des Hollywood-Kinos,
jedem Theatralisieren fern - so umstritten andererseits Hanekes Film, auch bei
seinen Fans, die die "Die Klavierspielerin" oder "Code: unbekannt" mögen, sein mag. (1)
Ein Ehepaar mit zwei Kindern betritt
ein Wochenendhäuschen im Wald. Kurz darauf ist der Vater Laurent (Daniel
Duval) tot. Seine Beschwichtigungsversuche gegenüber einem Mann, der sich
mit Frau und Kind zu dem Haus Zugang verschafft hatte und der mit dem Gewehr
die ganze Zeit auf die Familie zielte, waren ohne Erfolg. Der Mann (Pierre Berriau)
schießt, vielleicht mehr aus Unsicherheit und Angst, den aus Tötungsabsicht.
Das Reden hat ein Ende. Der Getötete redete zu viel, könnte man meinen.
Der Mörder lässt die Frau, Anna (Isabelle Huppert), und deren Kinder
Ben (Lucas Biscombe) und Eva (Anaïs Demoustier) gehen und behält die
Lebensmittel und fast alles andere, was die Familie Laurent mitgebracht hat,
einschließlich des Autos. Anna muss ihren Mann begraben.
Rasch wird deutlich, dass es sich
hier nicht um einen x-beliebigen Überfall handelt. Kein Mensch in dem nahe
gelegenen Ort will Anna und den Kindern helfen. Ob sie, die aus der Stadt stammt,
nicht wisse, was hier los sei, fragt sie ein Mann. Eine Frau gibt ihr zwar etwas
zu essen, aber mit der Bemerkung, das würde sie nicht noch einmal tun.
Irgendwo im Ort verbrennen Nutztiere. Anna und die Kinder ziehen weiter, in
der Nacht. Was hier wirklich geschehen ist, lässt Haneke offen. Jedenfalls
scheinen die "normalen" gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr zu
funktionieren. Anna und die Kinder kommen unter, in einer Scheune.
Rasch wird auch deutlich, dass
dieser sich abzeichnende Ausnahmezustand sich von der Normalität in entscheidenden
Punkten kaum zu unterscheiden scheint. Während die Frau Freds, der Georges
erschossen hatte, hysterisch auf diese Tat reagiert, bleibt Anna völlig
gefasst, fast gleichgültig. Die Kinder reagieren, als wenn sie das alles
noch nicht richtig begriffen hätten. Die Ebenen von Normalität und
Ausnahme scheinen sich zu vermischen. Als mitten in der Nacht Ben plötzlich
verschwunden ist, versucht Anna verzweifelt - sie und Eva zünden Stroh
an, um Ben den Weg zurück zu erleichtern -, ihren Sohn zurückzuholen.
Der Minimalismus, mit dem Haneke hier und im weiteren Verlauf des Films die
Handlung vorantreibt, ermöglicht immer wieder eine differenzierende Sicht
auf dieses Verhältnis von Regel und Ausnahme und deren Kontext. Als Ben
im Morgengrauen wieder auftaucht, hält ihn ein vielleicht 15jähriger
Junge (Hakim Taleb) fest, ein Ausreißer, eine Hirt, einer, der sich durch
die veränderte Situation in Misstrauen und Angst völlig allein durchschlagen
will, dann aber Anna und die Kinder bis zu einem Bahnhof begleitet, in dem sich
etliche andere, ja, soll man sagen: Überlebende, eingefunden haben, darunter
Koslowski (Olivier Gourmet), der, vielleicht auch, weil er eine Waffe hat, das
Ruder in die Hand genommen hat, um den nächsten Zug, der hier durchfahren
will, zu stoppen.
"Ich sage nicht, dass
Kunst Wahrheit
ist, aber sie ist der Versuch
der
Genauigkeit. Und Genauigkeit
kann
keine Lüge sein. Insofern
bin ich
allergisch gegen sehr viele
Filme,
oft gerade auch gegen jene,
die
die Kritiker so schätzen."
(Michael Haneke)
Die Verhältnis der Anwesenden scheint minimalisiert auf Tauschhandel.
Jeder, der noch irgend
etwas besitzt, Zigaretten, Lebensmittel, Schmuck,
tauscht. Das meiste Wasser in der Umgebung scheint verseucht, überall liegen
verendete Tiere. Einige wenige bewaffnete Männer auf Pferden scheinen noch
so etwas zu haben wie Macht. Sie verkaufen Wasser - Geld aber spielt hier keine
Rolle mehr.
Das Verhältnis der Menschen
ist aber auch geprägt durch Auseinandersetzungen, die sich nicht nur an
der Rolle, die sich Koslowski zuerkannt hat, festmachen. Vor allem die Brandts
(Béatrice Dalle, Patrice Chéreau) bieten Koslowske - mehr hilflos
- die Stirn. Diese Hilflosigkeit lässt einige andere phantasieren, z.B.
von angeblich 36 Gerechten, deren Existenz ausschließlich garantieren
würde, dass die Welt nicht völlig untergeht, dass es weitergeht. Béa
(Brigitte Roüan) ist eine dieser Phantasierenden.
Anna und ihre Kinder werden zu
einigen unter vielen. Immer mehr Menschen erscheinen auf dem Bahnhofsgelände.
Mit einem Flaschenzug schafft man einen Wagon auf die Strecke, um den nächsten
Zug zum Halten zu zwingen - um endlich hier wegzukommen, ohne zu wissen, ob
es andernorts anders ist, eben "normal". Auch Fred erscheint dort.
Anna klagt ihn an, aber es steht Aussage gegen Aussage. Kein Richter ist anwesend.
Windzeit, Wolfzeit, keiner will
den anderen schonen. Der Filmtitel stammt aus der Edda, dem Codex regius, dem
Gesang der Seherin, die das Ende der Welt beschreibt. Allerdings ist "Wolfzeit"
selbst alles andere als Teil eines Mythos, einer Sage oder ähnlichem. Da
gibt es nichts Spektakuläres, nichts, was auf einen fulminanten Höhepunkt
zusteuert, nichts, was sich unter dem Begriff Aufregendes subsumieren ließe.
Selbst in der Ausnahme bleibt alles "normal". Und gerade dieser Minimalismus
und die Tatsache, dass Haneke im engeren Sinn gar keine Geschichte erzählt,
sondern eher eine Zustandsbeschreibung in Bilder fasst, lässt sowohl das
Klaustrophobische, das Beengende, das Zuschnürende dieses Zustands spüren
wie die Nähe von Norm und Regel und ihre, man könnte sagen "genetische"
Verwandtschaft erahnen. Die humanitäre Ader, die der Film jedoch auch enthält,
der moralische Rest sozusagen, der sich in dieser Ausnahmesituation zeigt, personifiziert
sich vor allem in Eva, der Tochter Annas, die einen Brief an ihren toten Vater
schreibt (der Versuch einer Art Selbstvergewisserung), die versucht, den jungen
Hirten, der namenlos bleibt, von seinem egozentrischen Weg abzubringen, die
ihren Bruder Ben schützen will, so gut sie es eben kann. Es mag wenig überraschen,
dass es Kinder und Tiere sind, die vor allem unter dieser Situation zu leiden
haben. Eine mit der Kamera festgehaltene Tötung eines Pferdes und der Selbstmord
der Tochter eines Paares verdeutlichen dies. Es sind vor allem aber eben auch
die Kinder, in deren Reaktionen sich der moralische Rest Luft verschafft.
"Ästhetik
ohne Moral ist Kitsch -
und Moral ohne
Ästhetik ist auch
Kitsch, nur
eben in die Gegenrichtung.
Das ist dann
emotionaler,
gut gemeinter
Schmarrn."
(Michael Haneke)
Und hier gilt vor allem das Ende
des Films als eine Art stilles Fanal. Die vorletzte Szene zeigt Ben, der sich
entkleidet hat, und sich in einem Feuer, das die Erwachsenen auf dem Gleis entfacht
haben, um den nächsten Zug anzuhalten, verbrennen will. Sie zeigt, wie
einer der bewaffneten Männer ihn davon abhält, auf ihn einredet, der
Wille, es zu tun, reiche aus, aber der Tod würde nichts ändern. Die
letzte Szene zeigt aus einem fahrenden Zug heraus blühende Landschaften
- eine der wenigen Szenen in satten Farben. Beide Szenen suggerieren Rettung,
Erlösung, und vielleicht sind es diese beiden Szenen, die Haneke in einigen
Besprechungen des Films so bittere Kritik eingebracht haben. Ich vermute, dass
hier ein Missverständnis, wie immer es auch zustande kommen mag, vorliegt.
Ich sehe in diesem Schluss etwas Moralisches, aber keineswegs im Sinne einer
theatralisch überhöhten Gutmensch-Ideologie oder gar eines Lehrstücks.
Es ist eine zutiefst kritische und zweifelnde Moral, was sich allein schon aus
der Art der Inszenierung beider Szenen ergibt. Man könnte sogar von einer
Moral sprechen, die den Zynismus im Verhältnis von Regel und Ausnahme bloß
stellt, so paradox dies auch klingen mag. Die Art und Weise, wie der Mann auf
Ben einredet, spricht von der Hilflosigkeit der Erwachsenen angesichts der Situation,
und die Zugfahrt, bei der man keinen Menschen sieht, von einer möglichen,
aber keineswegs sicheren Rückkehr in eine Normalität, die sich eben
von der Ausnahmesituation nur bedingt unterscheidet.
So, wie in den Strukturen der
Zivilisation die Charakteristika im Verhalten der Menschen, ihre Mentalitäten
bereits angelegt sind, die sich dann in der Ausnahme offenbaren, erwächst
eben insgesamt die Ausnahme aus der Regel selbst, ist von ihr bestimmt. Gerade
hierin liegt ja das Erschreckende, das Beengende, das was einem eigentlich schon
in der Normalität die Luft zum Atmen nehmen müsste, sich aber "nur"
in mehr oder weniger diffusen Ängsten kanalisiert. Im Katastrophenfilm
des Hollywood-Kinos - man erinnere sich - werden aus Menschen, die in der Normalität
Arschlöcher sind, in der Ausnahme zuhauf geläuterte Gutmenschen -
nicht aus allen, aber aus vielen. Der, der böse bleibt, erfüllt im
Katastrophenfilm nur die Funktion des dramaturgischen Effekts. Wenn alle in
der Ausnahmesituation gut würden, wäre eine Inszenierung hinfällig.
Bei Haneke ist das definitiv anders, weil er insgesamt und auf einzelne Menschen
im Film bezogen, eben die Ausnahme nicht als etwas definiert und zeigt, was
sich von der Norm fundamental unterscheidet.
Wertung: 10 von 10 Punkten.
Ulrich Behrens
Die Zitate Hanekes
sind dem Presseheft entnommen: http://www.wolfzeit.at/web/presseheft.htm
Dieser Text
ist zuerst erschienen in:
(1) Vgl. die
Kritiken in der Filmzentrale:
http://www.filmzentrale.com/rezis/wolfzeitjeb.htm
http://www.filmzentrale.com/rezis/wolfzeittg.htm
http://www.filmzentrale.com/rezis/wolfzeitbh.htm
Wolfzeit
(Le temps du loup)
Frankreich, Österreich, Deutschland 2003, 110 Minuten
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Kamera: Jürgen Jürges
Schnitt: Nadine Muse, Monika Willi
Catering: Sarah Wiener
Darsteller: Isabelle Huppert (Anna), Anaïs Demoustier (Eva),
Lucas Biscombe (Ben), Hakim Taleb (junger Ausreißer), Béatrice
Dalle (Lise Brandt), Patrice Chéreau (Thomas Brandt), Rona Harter (Arina),
Maurice Bénichou (M. Azoulay), Olivier Gourmet (Koslowski), Brigitte
Roüan (Béa), Daniel Duval (Georges), Pierre Berriau (Fred), Marilyne
Even (Frau Azoulay), Florence Loiret (Nathalie Azoulay)
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