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Wolke
9
Die
einfachste Geschichte der Welt
Eigentlich ist es die einfachste Geschichte
der Welt. Inge verliebt sich in Karl, obwohl sie mit ihrem Mann Werner glücklich
und zufrieden ist. Als sie es Werner endlich gesteht, bricht für den eine
Welt zusammen. Wie ist das möglich? "Es ist einfach passiert",
sagt Inge. Gewollt hat sie es nicht. Keiner hat Schuld; es ist, wie es ist,
sagt die Liebe. Und kaum ein Glück, das nicht das Unglück eines anderen
wäre.
Ungewöhnlich an dieser Liebesgeschichte
mit tödlichem Ausgang ist nicht das Alter der Beteiligten, sondern dass
man es ihnen auch ansieht. Es geht nicht um die ewig reparierten und maskierten
"jungen Alten", die uns das Fernsehen im Feel-Good-Zielgruppenprogramm
zur Abendzeit und in der Werbung serviert, sondern um Menschen, wie sie eben
aussehen, wenn sie über 70 sind. Auch beim Sex, auch bei alltäglichen
Verrichtungen im Badezimmer oder in der Küche ist die Kamera diesen Menschen
sehr nahe. Und merkwürdigerweise kommt gerade aus dieser Nicht-Verschämtheit
die Würde der Menschen und ihrer Lebensweise in diesem Film.
Ungewöhnlich ist die Entstehungsweise
des Films. Statt eines durchentwickelten Drehbuchs haben die Schauspieler alle
Freiheit, ihre Charaktere zu entwickeln und sie an der vorgegebenen Situation
zu überprüfen. Die einzelnen Stationen der Geschichte werden mehrfach
durchgespielt und dann montiert, bis alles Abschweifende und Wiederholte eliminiert
ist. Am Ende gibt es in diesem Film nicht nur kein falsches, sondern auch kein
überflüssiges Wort.
Der Film Wolke
9 lebt auch von der genauen
Beobachtung der Dinge. Jedes Detail auf einem Frühstückstisch erzählt
seine Geschichte. Eine Tapete scheint, mit dem Wechsel der Empfindungen der
Menschen vor ihr, selber den Ausdruck zu wechseln, eine Kaffeemaschine, die
eben noch nach verlässlicher Alltagsordnung klang, macht auf einmal böse,
fast unerträgliche Gefühlsmusik. Und nie verleugnet die Tragödie,
dass das menschliche Leben voller unwiderstehlich komischer Momente ist. Dresens
Realismus hat zu viele magische Elemente, um in Milieu und Charakter zu versinken,
es gibt eine Dialektik zu erkennen zwischen scheinbarer Enge und vielleicht
ebenso scheinbarer Freiheit. Oder anders gesagt: zwischen sehr konkreter Enge
und sehr konkreter Freiheit.
Dresen macht utopische Filme. Die eine
Utopie ist, dass die Geschichten von Leuten wie dir und mir interessant und
bedeutungsvoll genug sind, perforiert noch im Unglück von Magie und Versprechen,
um die Gegenwart einer Kamera zu rechtfertigen. Als Gegenentwurf zu jener Kamera,
die aus dem wirklichen Leben ein Event für eine halbe Fernsehstunde macht
und es dann fortwirft. Die andere Utopie ist es, dass man Filme wirklich gemeinsam
machen kann, dass Schauspieler, Kameraleute, Regisseure, Cutter, Tonleute und
so weiter gleichwertige Autoren eines Kunstwerkes sind, und dass die kollektive
Kunst des Kinos schließlich den Zuschauer mit einschließen kann.
Wolke 9, zum Beispiel, geht ja in unseren Köpfen
weiter.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: Freitag
Wolke
9
Deutschland
2008 - Regie: Andreas Dresen - Darsteller: Ursula Werner, Horst Westphal, Horst
Rehberg, Steffi Kühnert - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12
- Länge: 98 min. - Start: 4.9.2008
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