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The
Woodsman
Keine Resozialisierungsbehörde würde wohl
je auf die glorreiche Idee kommen, einen verurteilten Päderasten ausgerechnet
gegenüber einer Grundschule einzuquartieren. Aber im Kino – noch dazu im
amerikanischen – scheint alles möglich. In “The Woodsman" darf Walter
(Kevin Bacon) nach Verbüßung einer 12jährigen Haftstrafe wegen
sexuellem Mißbrauch Minderjähriger direkt wieder einen Logenplatz
einnehmen. Sein Schwager Carlos (Benjamin Bratt), sein letzter Kontakt zur Familie,
bringt ihm noch einen Tisch vorbei, und bald darauf geht Walter wieder alten
Gewohnheiten nach. Nach der Arbeit sitzt er am Fenster und beobachtet den Schulhof
auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Das Thema Kindesmissbrauch zieht in der medialen
Öffentlichkeit stets eine Kette emotionaler, moralischer und ganz besonders
strafrechtlicher Affekte nach sich. Mit konstruktiven Vorschlägen von Wegsperren
auf Lebenszeit bis Zwangskastration schaukeln sich die öffentlichen Diskussionen
schnell in Lynchmob-Stimmung. Der gerechte Volkszorn ist unversöhnlich.
Nicole Kassells Regie-Debüt “The Woodsman” bremst solche Reflexe allein
schon durch eine seltene formale Strenge aus. Dramatische Überzeichnungen
durch penetranten Musikeinsatz hat sie ebenso vermieden wie unnötige Schnitte
oder aufdringliche Close-Ups. Oft ist Bacon nur in der Halbtotalen zu sehen,
oder angeschnitten; es ist eine respektvolle Distanz. Kein Ekel, keine Abscheu
drückt sich in ihren Bildern aus, aus denen jede Farbe gewichen zu sein
scheint.
Die Reserviertheit, mit der Kassell Walter bei seiner
Resozialisierung beobachtet, hat etwas Abwartendes, Neugieriges. Es ist aber
nicht nur das Verhalten Walters, das in “The Woodsman” interessiert. Kassell
hat auch das soziale Umfeld genau im Blick. Seinen Therapeuten zum Beispiel,
der nicht versteht, dass “Normalität” auch einfach nur bedeuten kann, beim
Anblick eines kleinen Mädchens nicht sofort auf dumme Gedanken zu kommen.
Oder Walters Bewährungshelfer (Mos Def), der die Bilder verstümmelter
Kinder nicht aus dem Kopf kriegt. Wie kann man jemanden wie Walter rational
nur zu fassen bekommen? Kassell wählt die naheliegendste Variante: Sie
spielt die hinlänglich bekannten Modelle gesellschaftlich sanktionierter
Reaktion durch: von der liberalen Tätertheorie, die die Ursachen der Sexualpathologie
in der Kindheit des Täters zu finden versucht, bis zum Hardliner-Argument
der vorprogrammierten Rückfälligkeit.
Argumentativ derart in die Beweispflicht genommen,
gerät der Film dann auch spätestens ab der Hälfte in arge Erklärungsnöte.
Je weiter sich die Fallstudien ausdifferenzieren, desto mehr entpuppt sich “The
Woodsman” als wackelige Konstruktion von Missbrauchsverhältnissen. Walters
Arbeitskollegin Vicky (Kyra Sedgwick), mit der er sich zögerlich auf eine
Beziehung einlässt, hat bereits ihre eigene Missbrauchsgeschichte hinter
sich. Ihre widersätzlichen Erfahrungen binden sie aneinander; die sadomasochistische
Natur dieses Abhängigkeitsverhältnisses scheint Kassell dabei völlig
zu entgehen. Für Walter allerdings wird erst die Geschichte der 11jährigen
Robin, der er in einem Anflug von Selbstaufgabe heimlich in den Park folgt,
zum großen Reintegrations-Moment.
Missbrauchserfahrungen funktionieren in “The Woodsman”
als letzte resozialisierende Instanz. Die Opfer müssen dem Täter helfen,
mit sich ins Reine zu kommen. Solch kommunitaristischer Gemeinsinn ist sicher
eine erbauliche Vorstellung, wenn ich mir auch über den inhärenten
Zynismus noch nicht ganz im Klaren bin. Kassell exerziert hier ein vertracktes
Modell ziviler Selbstbestimmung durch. Ihr Film spricht dem Staat mit seinem
Bestrafungsapparat jede Verantwortlichkeit zur Resozialisierung ab - und will
sie im selben Moment hochsymbolisch zurück in die Hände des Gemeinwesens
geben: dem Mob gewissermaßen. Diese Rechnung kann natürlich nicht
aufgehen. Aber Vergebung ist wohl nirgendwo so einfach zu erlangen wie im Kino.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der taz
The
Woodsman
USA
2004 - Regie: Nicole Kassell - Darsteller: Kevin Bacon, Kyra Sedgwick, Mos Def,
Benjamin Bratt, David Alan Grier, Eve, Michael Shannon, Hannah Pilkes, Carlos
Leon, Kevin Rice, Jessica Nagle, Joey Hazinsky - FSK: ab 12 - Länge: 87
min. - Start: 5.5.2005
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