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Yi
Yi - A One and a Two
Ganz
unverschämt, voll offener Neugier versucht der kleine Yang-Yang (Jonathan
Chang) der Nachbarin ins abgewandte Gesicht zu schauen. Wie, sagt er, solle
er sonst wissen, warum sie weint? Wir brauchen die Kamera, um über unsere
eigenen Gesichter etwas erfahren zu können, erklärt ihm der Vater,
NJ (Wu Nianzhen). Als Yang-Yang dann aber einen Fotoapparat bekommt, wird sein
Blick ein anderer, weniger direkter, schamloser, konventioneller: Er fotografiert
Hinterköpfe. Und schenkt dann die Fotos den so "Porträtierten"
- damit sie eine Seite von sich entdecken können, die sie mit eigenen Augen
nicht sehen können.
Es
ist eine kleine Philosophie seines eigenen künstlerischen Ansatzes, die
YI YI da vorführt: Denn auch Edward Yangs Film wird angetrieben von dem
Glauben, dass die Kamera uns etwas über uns selbst zeigen kann, dass sie
Wahrheiten aufzeichnen und aufdecken kann. Dass dies aber nicht geht, wenn man
nur die vertraute und naheliegende Perspektive wählt.
Yangs
Kamera hält sich zurück. Sie ist ganz selten nur Teilhaber des Geschehens;
sie beobachtet die Figuren aus der Ferne oder im Zwielicht, lässt sie gelegentlich
verdeckt oder mit abgewandtem Gesicht, schaut sie an durch Fenster und wieder
und wieder in Spiegelungen - reflektierend, dass wir es nur mit Abbildern zu
tun haben. Sie bewahrt eine Distanz, die überhaupt nichts Kühles hat,
aus der allein Respekt spricht: Yang will seinen Charakteren nichts entreissen,
will Tiefes nicht dadurch entblößen, dass er es bloßstellt.
Respekt
ist das - und das stille Wissen, dass nichts im Leben so tragisch oder so freudig
ist, dass es allein schon das ganze Bild darstellen könnte. Nur einmal,
als Mutter Min-Min (Elaine Jin) die ganze Leere, Hohlheit, das Gefangensein
ihres Lebens überkommt, erlaubt sich Yang, einen Gefühlsausbruch groß
ins Bild zu setzen. Sonst bleibt immer Raum für die Welt um die Protagonisten,
für die Erfahrungen und Gedanken des Publikums. Yangs Respekt ist auch
einer vor seinen Zuschauern, die er sicher an die Quelle geleitet, nicht aber
zum Trinken prügelt.
Das
ganze Bild kann sich bei Yang ohnehin erst ergeben, wenn sich zur Eins die Zwei
hinzugesellt - seine Charaktere erklären sich nicht in großen Gesten
der Individualität, sondern erst in den Beziehungen zueinander. Wenige
Momente nur des Alleinseins gibt es in YI YI, und wenige Solo-Auftritte vor
der Gesellschaft; fast immer geht es darum, was eine Szene für alle Beteiligten
bedeutet.
Mit
langem, ruhigem Atem (aber nie langatmig) etabliert der Film die Rollenverteilung
in der und um die Familie Jian, wie ein Puzzle setzt sich das allmählich
zusammen. Die Fäden laufen zusammen bei Vater NJ - der nach Jahrzehnten
unerwartet seine Jugendliebe Sherry (Ke Suyun) trifft, während er in Firma
und Familie von kleinen Katastrophen umgeben ist. Was sich da zwischen einer
Hochzeit und einem Todesfall abspielt, ist das Panorama nicht nur einer Familie,
sondern des ganzen Lebens.
Von
Geburt bis Tod ist jedes Lebensalter vertreten, mit seinen neuen und alten Erfahrungen,
mit seinem eigenen Blick auf die Dinge. In einem seiner schönsten Momente
spannt Yang durch Parallelmontage den Bogen von NJ, der mit Sherry der ersten
Liebe möglicherweise eine zweite Chance geben wird, zu Tochter Ting-Ting
(Kelly Lee) und ihrem Freund, bei denen vielleicht eine ähnliche Geschichte
gerade ihren Anfang nimmt.
YI
YI ist erzählt mit Raum für Trauer, aber viel Humor und Optimismus,
ist oft anrührend, aber niemals rührselig, höchst kunstvoll,
aber nie gekünstelt. Nichts an dem Film ist aufdringlich, alles eindringlich.
Das gilt für die Kamera wie für den höchst präzisen Einsatz
der Musik (die gelegentlich auch geschickt mit Zitaten arbeitet), und nicht
minder für das durch die Bank absolut überzeugende Spiel der Darsteller.
Es gäbe ein Wort, das den bestimmenden Eindruck des Films einfangen könnte,
hätte es nicht diesen gänzlich unangebrachten Beigeschmack von Stickkissen-Sprüchen
und Besserwisserei (von denen YI YI gar nicht weiter entfernt sein könnte):
Das Wort wäre Weisheit.
Dabei
schafft es der Film, beständig auch über seine eigenen Voraussetzungen
nachzudenken, ohne dass dies je aufgesetzt, gezwungen, prätentiös
oder verquast wirkte. Selbstverständlich ist Yang-Yang (allein der Name
macht es mehr als deutlich), der Junge mit der Kamera, auch so etwas wie ein
Stellvertreter des Regisseurs Yang innerhalb der fiktionalen Welt. Seine Entdeckung
der Kamera, sein stummer, sturer Kampf gegen den Unverstand des Lehrers, der
sich über seine Bilder lustig macht, und nicht zuletzt sein Schluss-Monolog:
Das alles zeigt naheliegende Verbindungen zu Yangs künstlerischem Credo.
Aber
schon mit den ersten Szenen, als sich bei der Hochzeit die Familie zum Gruppenfoto
postiert, eröffnet YI YI unterschwellig einen Diskurs über das Abbilden,
der sich durch den gesamten Film zieht. Yang (der - wie NJ - ausgebildeter Elektroingenieur
und Computer-Designer ist) teilt nicht die postmoderne Grundskepsis, den Glauben
an die unüberbrückbare Kluft zwischen Wahrem und Reproduziertem (und
die kategorische Unzugänglichkeit des Wahren). Auch der japanische Videospiel-Designer
Mr. Ota (Issey Ogata) ist eines von Yangs Sprachrohren in diesem Film. Er erzählt
von der Möglichkeit, die Technik, das Virtuelle zu nutzen, um Leben (nach)
zu schaffen, predigt über die Notwendigkeit des kreativen Wagnisses. Und
zeigt, wie pure Beobachtung, pures Erinnern, wenn sie nur genau genug sind,
ununterscheidbar werden von Magie.
In
einer der ganz wenigen Szenen, in der Yang das Spiel mit den filmischen Möglichkeiten
unübersehbar an die Oberfläche treten lässt, zeigt das Bild die
Ultraschallaufnahme von NJs werdendem Neffen, während eine weibliche Stimme
vom Entstehen und Wachsen des Lebens spricht - doch was wir zunächst für
die Ärztin halten müssen, entpuppt sich als die (schon zur nächsten
Szene gehörende) Übersetzerin des Spieldesigners, die in Wahrheit
von Otas Projekt spricht: Die Sätze über ein virtuelles Lebewesen
sind gültig auch für ein echtes - das selbst wiederum nur als virtuelles
Abbild sichtbar wird.
Das
beste Argument für diese Überzeugung von der Transportierbarkeit wahren
Lebens durch technische Medien ist letztlich das Gelingen von YI YI selbst:
Man kann, glaube ich, diesen Film nicht sensibel sehen, ohne das Gefühl
zu verspüren, dass er tatsächlich an Wahrem, Wesentlichen rührt.
Ohne immer wieder getroffen zu sein davon, wie treffend er ist. Und das eben
genau weil er sich weigert, die üblichen Spiele der Überrumpelung,
Überwältigung zu spielen; weil er nie vertuscht, dass er nur Abbild
ist. Weil er, so unglaublich genau er gearbeitet ist, immer Freiräume lässt,
seinen Figuren und seinem Publikum. Nie auftrumpft mit einer vorgeblichen ganzen
Wahrheit, sondern uns zeigt, dass man von allem nur einen Teil sehen kann, Ausschnitte,
Spiegelungen - und dennoch daraus ganz starke Hoffnung schöpft, dass dies
viel, viel mehr ist als Nichts; dass uns die in diesen Teilstücken gespeicherte
Erfahrung ein gutes Stück weit bringen kann.
Warum
man eigentlich ins Kino geht, wird in YI YI - gewohnt selbstreflexiv - einmal
gefragt, und die Antwort ist: Weil man durch das Kino quasi doppelt leben kann.
Bei einem Film wie diesem trifft das allemal.
Thomas
Willmann
Diese
Kritik ist zuerst erschienen bei:
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der
filmzentrale mehrere Kritiken
Yi
Yi - A one and a two
Wu
Nianzhen, Jonathan Chang
Taiwan/Japan
2000 - Regie: Edward Yang - Darsteller: Wu Nianzhen, Elaine Jin, Kelly Lee,
Jonathan Chang, Tang Ruyun, Chen Xisheng, Ke Suyun, Zeng Xinyi, Xiao Shushen,
Issey Ogata, Michael Tao, Adrian Lin, Xu Shuyuan, Yupang Chang - Länge:
173 min. - Start: 14.6.2001
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