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Die
Zeit nach Mitternacht
Running
Man
"Was
willst du von mir? Ich habe
doch
nichts getan! Ich bin doch
nur
ein harmloser Programmierer!"
(Paul
zu Gott)
Wie
in "Taxi
Driver"
(1976) und "Bringing
Out the Dead"
(1999) bildet die Stadt der Städte, New York, sozusagen als Urbild, als
Prototyp der Stadt in Scorseses "After Hours" aus dem Jahr 1985 den
Ort des Geschehens. Und wiederum steht ein Mann im Zentrum der Handlung, der
sich nicht zurecht findet - diesmal allerdings in einer zutiefst ironischen
Geschichte, die dennoch aus ihrer klaustrophobischen und teilweise furchterregenden
Grundstimmung kein Hehl macht. Fast könnte man "After Hours"
als Farce mit possenhaftem Einschlag titulieren, gesalzen mit der typischen
Bissigkeit Scorseses in bezug auf die Moderne, die Geheimnisse, die verborgene,
aber immer wieder zutage tretende Absurdität städtischen Lebens, die
manchmal skurrilen, zumeist erschreckenden Regeln der modernen Zivilisation
- und nicht zuletzt die visualisierten Ängste eines Mannes, der am Schluss
eigentlich nur glauben kann, das Schicksal habe sich seiner bemächtigt.
Wie
all diese Geschichten beginnt auch "After Hours" - harmlos. Ein harmloser,
fast von der Unschuld der Kindheit nicht verlassener Mann, ein einfacher Programmierer
geht nach Hause. Dieser Paul Hackett (Griffin Dunne) - fast könnte man
meinen, Scorsese meint sich hier selber (in einer Szene in einem Club sehen
wir den Regisseur als Beleuchter) - wohnt allein. Die Dunkelheit der Stadt begleitet
ihn und uns die nächsten Stunden respektive 96 Minuten des Films. In einem
Coffee-Shop sehen wir Paul wieder, ein Buch vor dem Gesicht, einen Arm vor Langeweile
aufgestützt. Es ist Marcy (Rosanna Arquette), die ihn aus dem Dösen
reißt. Sie kennt und mag das Buch, sagt sie - irgendeines von Henry Miller.
Man redet miteinander, Paul wirkt jetzt aufgeschlossen. Und Marcy gibt ihm die
Telefonnummer einer Freundin, der Künstlerin Kiki (Linda Fiorentino), die
Briefbeschwerer produziert. Vielleicht könne Paul mal vorbeikommen, um
einen zu erwerben. Paul, der mehr an Marcy interessiert ist als an Briefbeschwerern,
zögert nicht lange und ruft gleich von zu Hause aus bei Kiki an, fährt
mit dem Taxi hin. Schon während dieser Fahrt scheint Paul das Unglück
zu verfolgen: Die 20-Dollar-Note, das letzte Geld, das er dabei hat, fliegt
Paul bei der äußerst rasanten Fahrt aus dem Fenster.
Alles
weitere und alle weiteren Personen, die Paul in dieser Nacht trifft, bleiben
für ihn und für uns (zunächst) im Halbdunkel, im Verborgenen:
- Kiki,
die sich von Paul massieren lässt und dabei einschläft, nachdem sie
Paul überredet hatte, an einer Skulptur zu arbeiten, einer menschlichen
Figur in anscheinend verzweifelter Pose, an der er eine 20-Dollar-Note (seine???)
wieder findet;
- Marcy,
die ihm von einer sechsstündigen Vergewaltigung erzählt, von der sie
allerdings kaum etwas mitbekommen habe, weil sie die meiste Zeit geschlafen
habe, von ihrem Mann, der ständig, auch beim Sex, an den Film "Der
Zauberer von Oz" gedacht habe und beim Orgasmus "Ergib dich, Dorothy"
zu schreien pflegte, weswegen sie sich von ihm getrennt habe;
- die
Brandsalbe, die Paul bei Marcy entdeckt und die ihn auf Wunden bei Marcy schließen
lässt;
Das
alles wird Paul zu viel. Diese merkwürdigen Geschichten von Marcy treiben
ihn dazu, sich heimlich zu verpissen. Nichts wie nach Hause; doch die 96 Cent
reichen nicht für die U-Bahn; die kostet nachts seit neuestem ein Dollar
fünfzig.
Downtown
Soho bei Nacht. Die Straßen sind leer. Die Straßenbeleuchtung ist
schwach. Die Gegend ist nicht die beste in New York. Es kündigt sich an,
dass Paul ein Gefangener der Nacht und des Viertels wird - er, der freundliche,
hilfsbereite Programmierer. Es gießt in Strömen. Und nach Hause laufen
- das kann er nicht, das ist zu weit, erst recht bei diesem Wetter. Thomas (John
Heard), ein Barbesitzer, würde ihm gern das Geld für die U-Bahn geben,
aber er hat den Schlüssel für seine Kasse zu Hause vergessen. Paul
erklärt sich bereit, ihn zu holen. Immer weiter verstrickt sich Paul in
die Angelegenheiten ihm fremder Menschen. Die Hausbewohner halten ihn, als er
den Schlüssel holt, für einen der Einbrecher, die seit Wochen die
Gegend unsicher machen und alles mögliche stehlen. Er kommt noch einmal
davon, weil er den Schlüssel vorzeigen kann. Die Toilette in Thomas Wohnung
ist verstopft und läuft über. Nicht nur das: er sieht die wirklichen
Einbrecher, Pepe (Tommy Chong) und Neil (Cheech Marin), gerade, als sie die
Skulptur von Kiki in ihren Wagen laden und daraufhin flüchten. Aber Kiki
erzählt ihm, sie habe ihren Fernseher und die Skulptur an die beiden verkauft.
Paul begreift die Welt nicht mehr. Als er dann auch noch Marcy tot in ihrem
Zimmer findet, gerade dabei, sich bei ihr für sein Auf-und-Davon zu entschuldigen,
diese Marcy, der er sich vorsichtig nähern wollte, die Schlaftabletten
geschluckt hat, und Kiki und ihr Freund Horst (Will Patton) in den Club Berlin
verzogen haben, glaubt er fast selbst nicht mehr daran, Downtown Soho jemals
entfliehen zu können.
Es
kommt noch schlimmer: Nicht nur, dass sich Julie (Teri Garr), die Kellnerin
von Thomas, an ihn heranmachen will, eine Frau, die gekleidet ist wie in den
60ern, die Musik aus den 60ern hört und die ihr Bett mit Mausefallen umstellt
hat - nein, auch eine andere Frau, Gail (Catherine O'Hara), macht ihm das Leben
schwer, als er einen Bekannten anrufen will und sie ihm beim Wählen der
Nummer aus lauter Spaß durcheinander bringt.
Und
dann ist es soweit: Die Einwohner von Downtown Soho haben beschlossen, dass
Paul einer der Einbrecher ist, die seit Wochen ihre Wohnungen ausrauben. Überall
hängen schon gelbe Zettel mit Pauls Konterfei und der Aufforderung:
"Burglar!
Stop him!"
Die
Nacht spuckt Paul nach Soho (das Taxi, dessen Fahrer wie ein Irrer durch die
Straßen fegt) - am Schluss spuckt sie ihn wieder aus. "After Hours"
ist Komödie, aber nicht nur und sicherlich kein Horrorfilm, allerdings
ein Horror-Trip. Die Gestalten, denen wir begegnen sind skurril, aber keine
unrealistischen Figuren. Immer am Rande des Skurrilen hält Scorsese die
Handlung jedoch stets im Realen einer Stadt, in der so etwas eben passiert -
wenn vielleicht auch nicht in dieser Dichte der Verstrickungen, die Paul wie
das Schicksal treffen. Wenn er in all seiner Verzweiflung Gott anruft und ihn
fragt, womit er das alles verdient habe, erscheint er wie eine kafkaeske Figur,
die die Zusammenhänge nicht versteht, nicht verstehen kann. Auch wir merken
erst nach und nach, wie alles zusammenhängt: Thomas mit Marcy, die Einbrecher,
die Einwohner, die sich zusammenschließen, um ihnen den Garaus zu machen.
Alle kennen sich, nur Paul wird dies erst allmählich bewusst. Er ist in
etwas hinein geraten, was er nie wollte, verstrickt, eingeschnitten in eine
Gemeinschaft, die ihm jederzeit an den Kragen könnte, konfrontiert mit
Menschen, die Paul für ihre eigenen Interessen benutzen: Julie, die ihn
in ihr mit Mausefallen umstelltes Bett holen will; Gail, die Spaß haben
will, auch mit Paul; Marcy, die Paul nur vollquatschen will; selbst June (Verna
Bloom), die ihn im Club Berlin vor der ihn verfolgenden Meute versteckt, indem
sie ihn als Skulptur verkleidet - wie die Skulptur von Kiki sieht er aus -,
dann aber nicht wieder befreit, um ihn bei sich zu halten.
Wie
ein "Running Man" geht, läuft, flüchtet Paul durch Soho.
Die Uhr läuft. Von halb elf bis zum Morgengrauen muss er dies überstehen,
könnte man meinen; wie ein Programm, das unaufhaltsam abläuft, innerhalb
dessen Paul "Aufgaben" zu erfüllen hat: Marcy zuhören, Thomas
den Kassenschlüssel holen, Julies Wünsche erfüllen, Gails Wünsche
erfüllen, June dienen, der Meute entkommen ... Der Programmierer in einem
Programm. Paul, immer in Gefahr, paranoid zu werden, entgeht dem Alptraum ausgerechnet
durch die unfreiwillige Hilfe der Einbrecher.
Auch
die Symbolik des Films korrespondiert mit der hart an der Realität erzählten
alptraumhaften Farce. Michael Ballhaus Kamera kreist um Pauls Kopf, zeigt in
Großaufnahme den Telefonhörer an seinem Ohr - Paul ruft Marcy an,
die Paul unbewusste "Anmeldung" zum "Spiel" -, zeigt den
20-Dollar-Schein aus dem Taxi fliegen - kein Geld, kein Entkommen, er muss am
"Spiel" teilnehmen -, zeigt den Schlüssel, den Kiki aus dem Fenster
wirft, auf Paul zufallend - die Eintrittskarte in das "Spiel" -, zeigt
Kikis Skulptur - Paul gefangen in Soho, im "Spiel". Die Fäden
für Paul sind geknüpft, und trotzdem ist das Spiel kein Spiel, sondern
bitter-ironischer Ernst, ohne dass es jemand bewusst darauf angelegt hätte.
Die Regeln der Stadt, des städtischen Lebens involvieren Paul, als ob die
göttliche Vorsehung ihn auserkoren hätte.
Wir
sehen einen fantastisch spielenden Griffin Dunne, und auch seine Partner, allen
voran Rosanna Arquette, Teri Garr, Linda Fiorentino, John Heard und Verna Bloom,
spielen das "Spiel" wunderbar-erschreckend mit.
•
D V D •
Format:
Dolby, HiFi Sound, PAL
Sprachen:
Deutsch (Dolby Digital 1.0), Englisch (Dolby Digital 1.0), Spanisch (Dolby Digital
1.0)
Untertitel:
Deutsch, Englisch, Spanisch, Türkisch, Finnisch, Griechisch, Hebräisch,
Icelandic, Kroatisch, Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Schwedisch
Untertitel
für Hörgeschädigte: Deutsch, Englisch
Bildformat:
1.85:1
DVD
Erscheinungstermin: 22. Oktober 2004
Bonusmaterial:
Audiokommentar
von Scorsese, Dunne, Produzentin Amy Robinson, Cutterin Thelma Schoonmaker und
Michael Ballhaus
Making
Of: Filming for Your Life
Nicht
verwendete Szenen
US-Kinotrailer
Preis:
amazon und jpc € 14,99 (Stand: Juni 2005)
Die
von Warner Bros. 2004 herausgegebene DVD präsentiert den Film in exzellenter
Bild- und Tonqualität. Neben dem interessanten Audiokommentar von Scorsese
u.a. bietet die DVD ein 19 Minuten langes Making Of mit Scorsese, Schoonmaker,
Produzentin Amy Robinson und Griffin Dunne aus dem Jahr 2004. Der Regisseur
erzählt hier, dass er die Dreharbeiten zu "The
Last Temptation of the Christ"
(der Film kam dann 1988 in die Kinos) unterbrochen hatte, um "After Hours"
zu drehen - für Scorsese ein Muss, um, wie er sagt, herauszubekommen, wie
er als Filmemacher überhaupt weiter machen sollte.
Ergänzt
wird das Zusatzmaterial durch ein Featurette mit nicht verwendeten Szenen. Besonders
interessant sind zwei Szenen, die es wert gewesen wären, im Film zu verbleiben:
ein Streit zwischen Gail und Paul im Treppenhaus und ein Gespräch zwischen
Thomas und Paul wegen des Selbstmords von Marcy.
Insgesamt
eine gelungene DVD.
Wertung
Film: 10 von 10 Punkten.
Prädikat:
Besonders wertvoll.
Wertung
DVD: 8,5 Punkten.
Ulrich
Behrens
Dieser
Text ist zuerst erschienen in:
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diesem Film gibt’s im archiv
weitere Kritiken
Die
Zeit nach Mitternacht
(After
Hours)
USA
1985, 96 Minuten
Regie:
Martin Scorsese
Drehbuch:
Joseph Minion
Musik:
Howard Shore
Kamera:
Michael Ballhaus
Schnitt:
Thelma Schoonmaker
Produktionsdesign:
Jeffrey Townsend
Darsteller:
Griffin Dunne (Paul Hackett, Programmierer), Rosanna Arquette (Marcy Franklin,
Selbstmörderin), Verna Bloom (June, Clubbesitzerin), Tommy Chong (Pepe,
Einbrecher), Linda Fiorentino (Kiki Bridges, Künstlerin), Teri Garr (Julie,
Kellnerin), John Heard (Thomas "Tom" Schorr, Barbesitzer), Cheech
Marin (Neil, Einbrecher), Catherine O'Hara (Gail, Frau, die Eis ausfährt),
Dick Miller (Pete, Kellner), Will Patton (Horst, Freund Kikis), Larry Block
(Taxifahrer)
Internet
Movie Database: http://german.imdb.com/title/tt0088680
©
Ulrich Behrens 2005
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