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Zug
des Lebens
Der
Traum vom Leben
„Shtetl,
Shtetl, Shtetele
vergiss
mich nicht, mein Sthetele.
Ich
stieg einst in die Eisenbahn,
um
weit wegzufahren.
Shtetl,
Shtetl, Shtetele
vergiss
den Blick der Menschen nicht.
Denn
es hält am Leben mich,
wie
wunderbar verrückt sie war’n,
wie
wunderbar sie war’n.”
(Lied
von Schlomo, dem Narren)
Radu
Mihaileanu wurde 1958 im rumänischen Bukarest als Sohn von Ion und Veronica
Mihaileanu geboren. Nach seiner Flucht 1980 vor der Diktatur Ceaucescus kam
er nach Frankreich, studierte am L’Institut des Hautes Études Cinématographiques
und arbeitet seitdem als Regisseur und Drehbuchautor. Sein Vater, Schriftsteller,
Journalist, wuchs in einem der vielen osteuropäischen Shtetl auf, wurde
von den Nazis in ein Arbeitslager deportiert und überlebte den Holocaust,
weil er aus dem Lager fliehen konnte.
Radu
Mihaileanu arbeitete lange an der Idee zu einem Film, in dem er nicht die Gräueltaten
der SS, die Vernichtungslager zeigen wollte, sondern etwas längst Ausgelöschtes,
Ausradiertes: Das Leben im Shtetl, jenem Ort jüdischen Lebens in Osteuropa,
das es nicht mehr gibt. Er bot die Rolle des Dorfnarren Schlomo Roberto Benigni
an, der jedoch ablehnte und im selben Jahr wie Mihaileanu einen inhaltlich „verwandten”
Film – „Das
Leben ist schön”
– in die Kinos brachte, in dem ein jüdischer Vater durch Humor und allerlei
Erfindungsgabe seinem Sohn das Leben rettet.
„Mordechai:
Freund-schäft-liche Beziehung.
Schmecht:
Freundschaftliche Beziehung.
Mordechai:
Ich schaff’s nicht. Warum ist es nur so schwer?
Obwohl,
... es ist dem Jiddischen sehr ähnlich. Ich verstehe alles.
Schmecht:
Das Deutsche ist sehr hart, Mordechai, ... präzise und traurig.
Jiddisch
ist eine Parodie des Deutschen. Hat jedoch obendrein
Humor.
Ich verlange also nur von Ihnen, wenn Sie perfekt Deutsch
sprechen
wollen, ohne eine Spur von jiddischem Akzent,
den
Humor wegzulassen. Sonst nichts.
Mordechai:
Wissen die Deutschen, dass wir ihre Sprache parodieren?
Vielleicht
ist das der Grund für den Krieg?”
1941.
In einem jüdischen Shtetl irgendwo in Rumänien, stürzt der Dorfnarr
Schlomo (Lionel Abelanski) völlig aufgeregt auf den Marktplatz und berichtet,
die deutschen Truppen würden sich nähern. Die Dorfältesten, darunter
auch der Rabbi (Clément Harari), beraten, was zu tun sei – und es ist
Schlomo, der eine außergewöhnliche Idee hat: Man solle sich einen
Zug mit allem Drum und Dran besorgen, einen Teil der Dorfbewohner als deutsche
Soldaten verkleiden, samt Offizier, den Zug mit Hakenkreuzen versehen und den
Rest der Einwohner als Deportierte in die Wagons verfrachten. Der Zug solle
dann Richtung russischer Grenze fahren, um von dort aus irgendwie nach Palästina
zu kommen. Nach einigem Hin und Her beschließen die Ältesten, Schlomos
Idee zu realisieren. Es wird Geld gesammelt, die Frauen kümmern sich um
die Versorgung mit Lebensmitteln und allem, was für die Reise notwendig
ist, die Ältesten und der Rabbi suchen Freiwillige, die deutsche Uniformen
anziehen, finden aber zunächst niemanden. Man muss die geeigneten Personen
auswählen. Mordechai (Rufus) wird als Offizier auserkoren.
Ein
des Deutschen mächtiger Sprachwissenschaftler namens Schmecht (Johan Leysen)
soll den „deutschen” Soldaten das Jiddische aus- und das „reine” Deutsche eintreiben.
Die Schneider bitten die als Soldaten Auserkorenen, den Hitler-Gruß zu
absolvieren, um die Ärmellänge der Uniformen exakt bestimmen zu können.
Die Lokomotive, die sich in einem erbärmlichen Zustand befindet, wird restauriert,
der erste Wagon für den „Offizier” ausstaffiert und ein eigens herbeigeholter
Mann soll mit Hilfe eines Handbuchs über Lokomotiven den Zug in Bewegung
setzen. Das ganze Dorf ist in heller Aufregung, Musik spielt, es wird gesungen,
alles und alle wirbeln durcheinander, um die Abfahrt vorzubereiten.
Schließlich
kann es losgehen. Der Zug setzt sich in Bewegung.
Man
ist vorbereitet, so gut es geht – auch auf eine mögliche Begegnung mit
deutschen Truppen, die dann auch tatsächlich stattfindet. Aber nicht nur
die Deutschen sind ein Problem. Innerhalb der fahrenden Dorfgemeinschaft bildet
sich, ausgehend von Jossi (Michel Muller), eine kommunistische Gruppe, die ständig
versucht, neue Anhänger zu finden und zum anderen die Religion attackiert.
Und was sie alle nicht wissen: Der Zug wird beobachtet – von Partisanen, die
zunächst tatsächlich glauben, es handle sich um einen Deportations-Zug
der SS. Als der Zug irgendwann Halt macht, beobachten die drei Partisanen, wie
sich die Insassen zum Sabbat versammeln und die vermeintlichen deutschen Soldaten
ebenfalls beten. Sie sind völlig verwirrt und melden dies ihrem Chef über
Funk, der daraufhin befiehlt, den Einsatz abzubrechen.
Der
Zug des Lebens fährt weiter ...
„Mordechai:
Schlomo, ... wieso bist du der Verrückte?
Schlomo:
Durch Zufall. Ich wollte Rabbi werden, aber den gab’s schon.
Und
weil ein Verrückter fehlte, dachte ich mir: Bevor jemand
anders
verrückt wird, werde ich verrückt.
Mordechai:
Fühlst du dich nicht etwas allein?
Schlomo:
Nein, nein ... es gibt ja viele Verrückte.
Mordechai:
Nein, ich meine doch eine Frau. Wieso hattest du nie eine
Frau,
Schlomo? Und Kinder? Eine Familie?
Schlomo:
Ich bin doch nicht verrückt. ... Ich hätte zu viel geliebt. ...
Ich
wäre vor Liebe gestorben. ... Oder verrückt geworden. Nein, nein!”
Es
wurde oft die Frage gestellt, ob man im Zusammenhang mit Holocaust und Nationalsozialismus
Komik als Mittel einsetzen darf. Man erinnere sich an Filme wie den schon erwähnten
„Das Leben ist schön”, aber auch „Jakob, der Lügner” (1975 von Frank
Beyer; 1999 von Peter Kassovitz), Ernst Lubitsch „Sein
oder Nichtsein”
(1942) und Chaplins „Der
große Diktator”
(1940). Diese Frage unterstellt, jemand, der das tue, wolle sich über das
Schicksal der jüdischen Verfolgten lustig machen und / oder den Holocaust
verharmlosen. Doch gerade „Zug des Lebens” zeigt etwas ganz anderes. Das französische
„Train de vie” hat eine Doppelbedeutung in bezug auf den Film. Es gibt an, was
tatsächlich im Film geschieht; zum anderen bedeutet der Ausdruck: Lebensstil,
Lebensweise, Lebensart. Mihaileanu zeigt etwas, was ausgerottet wurde – das
Leben im Shtetl, diese besondere Gemeinschaft der Juden in osteuropäischen
Ländern, den jiddischen Humor, die spezielle Art und Weise, Konflikte zu
lösen, auf Probleme zu reagieren und Lösungen zu finden. Die Idee,
es den deutschen Verfolgern „nachzumachen” und eine Deportation vorzutäuschen,
um der Vernichtung zu entgehen, gehört zu dieser speziellen Lebensart.
Der
Zug ist aber vor allem wirklicher Ausdruck des Lebens, etwas, das sich bewegt,
nicht verharrt, ein Mittel, um den eigenen Lebensstil im Angesicht des drohenden
Todes „auf Fahrt” zu schicken, um woanders, in Palästina, weiter zu existieren.
Am Anfang kommentiert einer der Dorfältesten Schlomos Idee des Zuges mit
den Worten: „Der Mann ist wirklich meschugge! Wir nehmen ihnen die ganze Arbeit
ab, wenn wir uns selbst deportieren. Etwas Dümmeres gibt es gar nicht.
Wenn sie uns schon deportieren, sollen sie sich wenigstens anstrengen!” Dabei
steht der Zug, dieses Hilfsmittel, das die Einwohner des Shtetl benutzen, nicht
im Zentrum des Geschehens. Mihaileanu ist sorgfältig und in jeder Hinsicht
sensibel genug, um die Dorfgemeinschaft in den Mittelpunkt zu rücken. Da
werden kleine Liebesgeschichten erzählt, da wird Jossi gezeigt, der mit
seiner „kommunistischen Zelle” glaubt, eingreifen zu müssen, der aber vom
Rabbi und den Weisen des Dorfes als Teil der Gemeinschaft behandelt wird – trotz
allen Streits. Da wird gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten Mordechai in seiner
Rolle als deutscher Offizier zurechtkommen muss, kurz: es wird eine angesichts
der Todesgefahr erstaunlich intakte Gemeinschaft gezeigt, in der Ausgrenzung
ein Fremdwort zu sein scheint.
Demgegenüber
erscheinen die deutschen Soldaten, denen man begegnet, als Deppen. Aber diese
Darstellung beruht nicht auf einer Verharmlosung der tatsächlichen Gefahren,
sondern ist – besonders im Hinblick auf das tragische Ende des Films – ein weiteres
Mittel, um mit Humor einer Situation zu begegnen, die an sich nur schrecklich
ist.
„Ein
Journalist hat mich gefragt:
‘Überlebt
Schlomo den Krieg,
der
ja im Film noch nicht zu Ende ist?’
Am
Anfang hat er mich mit seiner
Frage
überrascht, doch dann habe
ich
die Antwort gefunden. Ich
habe
ihm gesagt: ‘Das hängt nicht
von
mir ab, das hängt von Ihnen
und
vom Publikum ab. Wenn Sie
Schlomo
vergessen, stirbt er,
wenn
sie ihn nie vergessen,
wird
er nie sterben.”
(Radu
Mihaileanu)
Mihaileanu
sind der Schrecken und der Terror stets bewusst. Im Film sind sie stets präsent.
Er sei, sagt er, zu dieser Geschichte u.a. auch aufgrund von Stephen Spielbergs
„Schindlers
Liste”
gekommen. Man könne nicht ewig und immer die Shoah auf der Ebene des visuell
dargestellten Schreckens und der Tränen behandeln. Das, was nicht gezeigt
wird, ist gerade deshalb oftmals schrecklicher in seiner Wirkung, als wenn man
versucht, es in allen Einzelheiten zu visualisieren. Dem folgt „Zug des Lebens”.
Dabei vermeiden Mihaileanu und vor allem auch seine Schauspieler jegliche Peinlichkeit
auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Tragödie, zwischen Ernsthaftigkeit
und Satire.
•
D V D •
Die
DVD-Box enthält eine zweite DVD. Dort finden sich ein Making Of von ca.
13 Minuten, das einen Eindruck von der schwierigen Situation bei den Dreharbeiten
vermittelt. Zwischen Engagement und Lust, diesen Film zu drehen, und der Erinnerung
an den Horror, der stets gegenwärtig ist, gelang den Beteiligten ein außerordentlicher
Film. Des weiteren enthält die DVD ein ca. 80 Minuten dauerndes Gespräch
zwischen dem Regisseur und seinem Vater. Die beiden sprechen über die Idee
des Films, die Dreharbeiten, ihre eigene Familiengeschichte, die Reaktionen
des Publikums in verschiedenen Ländern und vieles mehr – eine beeindruckende
und den Film in vielerlei Hinsicht ergänzende Dokumentation.
Der
Box beigefügt ist ein 27seitiges Booklet mit Informationen zum Film, zum
Regisseur, zur jüdischen Kultur in Osteuropa, zur jiddischen Sprache und
einigem mehr – außergewöhnlich viel im Vergleich zu so manchen anderen
DVD-Extras.
Noch
etwas ist besonders an dieser Ausgabe: Der Film wurde in französischer
Sprache aufgenommen. Diese Version ist auch einstellbar. Die Synchronisation
jedoch erfolgte (weitgehend) in Jiddisch, was dem Synchronregisseur Osman Ragheb
zu verdanken ist.
Ein
Manko der ersten DVD ist leider auch zu nennen: Am Anfang des Films ruckelt
leider das Bild des öfteren, was offenbar auf einen Produktionsfehler zurückzuführen
ist. Andere Besprechungen der DVD weisen auf diesen Fehler ebenfalls hin. Trotzdem
lohnt sich die Anschaffung der Box.
Ulrich
Behrens
Diese Kritik ist zuerst erschienen bei:follow me now
Zu diesem
Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Zug
des Lebens
(Train
de vie)
Frankreich,
Rumänien 1998, 103 Minuten
Regie:
Radu Mihaileanu
Drehbuch:
Radu Mihaileanu
Musik:
Goran Bregovic
Kamera:
Yorgos Arvanitis, Laurent Dailland
Schnitt:
Monique Rysselinck
Produktionsdesign:
Christian Niculescu
Synchronfassung:
Osman Ragheb
Hauptdarsteller:
Lionel Abelanski (Schlomo), Rufus (Mordechai), Clément Harari (Rabbi),
Michel Muller (Jossi), Agathe de la Fontaine (Esther), Johan Leysen (Schmecht),
Bruno Abraham-Kremer (Yankele), Marie-José Nat (Sura), Gad Elmaleh (Manzatou),
Serge Kribus (Schtroul), Michael Israel (Weiser) Rodica Sanda Tutuianu (Golda),
Sanda Toma (Mutter Jossis), Zwi Kanar (Lilienfeld), Razvan Vazilescu (Zigeuneroberst)
George Siatidis (Itzik), Mihai Calin (Sami), Ovidiu Cuncea (Moitl), Marius Drogeanu
(Mendel), Luminita Gheorghiu (Rivka)
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