Zu Verkaufen
Der Mann von den Einstellungsverhören am Anfang von HABEN (ODER NICHT)
hatte Sandrine Kiberlain (Alice) einen guten Rat gegeben: "Alte Knacker
wie mich sollten sie vergessen. Gehen sie weg - weit, weit weg. in die
weite Ferne!" Alice hatte daraufhin erstmal mit ihm geschlafen ("Aber ich
ficke Sie, klar?!"),um anschließend von Boulogne-sur-Mer nach Lyon
aufzubrechen. ZU VERKAUFEN, der zweite Film von Laetitia Masson, beginnt,
als ob Sandrine Kiberlain diesen Rat zum zweiten Mal beherzigt hätte.
France Robert (Kiberlain) hat ihren Bräutigam, den älteren
Nachtclub-Besitzer Pierre (Jean-François Stévenin) am Tag ihrer Hochzeit
verlassen und sich mit 500.000 Francs aus seinem Safe aus dem Staub
gemacht. Ratlos und geknickt beauftragt Pierre seinen Freund Luigi
(Sergio Castellitto), einen italienischen Rechtsanwalt, sie zu suchen.
War der Ortswechsel in Massons HABEN (ODER NICHT) mehr eine Zäsur, ein
Auftakt zum zweiten Teil des Films, in dem sich die Geschichte Brunos mit
der von Alice verbinden sollte, so ist ZU VERKAUFEN von Beginn an durch
Aufbrüche und Reisen strukturiert. Wie zwei ineinander verschachtelten
Roadmovies folgen wir dem Weg Luigis, der France Roberts Vergangenheit
hinterherfährt, und France Roberts Erlebnissen an jenen Orten, die durch
Rückblenden sichtbar werden. Die Figur der France Robert, die in ZU
VERKAUFEN lange nur über die Erzählungen anderer präsent ist, setzt sich
erst langsam aus dem zusammen, das wir mit Luigi über sie erfahren. Das
"Warum?" vom Anfang soll über das "Wer ist sie?" beantwortet werden.
Auf diesem Weg schreibt sich vieles von dem fort, was schon in HABEN
(ODER NICHT) wichtig geworden war. Arbeit, Überleben, Träume, Armut,
Besitzverhältnisse und vor allem die Beziehungen zwischen Liebe und Geld
verbinden sich in ZU VERKAUFEN mit Fragen nach Zeit und Identität. "Ist
France Robert ihr ähnlich?" fragt sich Luigi immer wieder, während er in
ihrem Heimatort ihre Eltern, frühere Freundinnen und Freunde aufsucht.
Diese Momente sind vielleicht deshalb die schönsten in ZU VERKAUFEN, weil
sich hier mit den fast schon dokumentarisch wirkenden Interviews die in
HABEN (ODER NICHT) entwickelte Kamera- und Schnittästhetik neuen
Problemen stellt. Was hat Besitz mit Liebe zu tun? Kann man Eltern
ausbezahlen? Können wir tatsächlich ein Bild der zunächst unsichtbaren
France Robert formen mit den Aussagen ihrer Eltern, von denen France
Robert selbst gesagt hatte, sie seien tot? Von wem wird da gesprochen,
auf wen bezieht sich das ständig wiederkehrende Attribut "verklemmt", und
welche France Robert ist jene, die wir wenig später dabei beobachten, wie
sie für Sex prinzipiell Geld zu verlangen beginnt? Ist France Robert ihr
ähnlich?
Nehmen wir jedoch die Rückblendensequenzen als die "wahren" Abbilder ein
und desselben Menschen, dann erzählt ZU VERKAUFEN von einem Menschen, der
stark dem Klischee des Mysteriums Frau entspricht. Ein einst schüchternes
Mädchen mit einer dauerhaften Begeisterung für Langlauf entwickelt sich
zu einem selbst- und preisbewußten Vamp, der gleichzeitig seltsam
verloren und in sich gebrochen wirkt. Oh, was will sie nur? Luigis
Off-Kommentare unterstützen diesen Blick. So nähert sich France
Robert/Sandrine Kiberlain auf eine spröde, eigenwillige Weise jenem
Frauentyp an, der im französischen Kino immer wieder in den verschiedenen
Bildern der "geheimnisvollen Schönen" durchgespielt worden ist. Etwa in
Filmen wie Claude Millers DAS AUGE, in dem ebenfalls das Gesetz in Form
eines Detektivs einer mysteriösen Kriminellen auf der Spur ist.
Wenn France Robert kein Phantom ist, dann hat ZU VERKAUFEN tatsächlich
etwas mit DAS AUGE zu tun. Auch hier beginnt sich der Jäger nach und nach
in sein Objekt, die Verfolgte, zu verlieben. Sein "Ich muß sie finden"
treibt Luigi an, und am Ende ist er es, der France Robert nach ihrer
Odyssee durch Frankreich davor bewahrt, zu dem zu werden, was sie niemals
sein wollte: "Ich bin keine Hure." Als sich in diesem Moment ihre und
seine Reise in Marseille treffen, scheint das Mysterium France Robert
endgültig als die Frau wahrgeworden, die Luigi mit uns bis dahin gesucht
hatte. Er hat sie wahrhaftig gefunden.
Gerade weil hier aber Luigis Traum in Erfüllung geht, könnten wir den
Titel des Films wörtlich nehmen und ZU VERKAUFEN als explizite
Bebilderung dessen verstehen, was mit der Eintrittskarte für diesen Film
gekauft worden ist: eine Männerphantasie. Rund und überhaupt erst
lebendig werden die Bruchstücke von Zuschreibungen anderer, Erzählungen
dritter und den Erinnerungen France Roberts (oder sind auch das Luigis
Träume?) durch die Phantasie ihres Verfolgers, des stellvertretenden
Zuschauers. Nur so konnte er sie finden. "Sie ist wie wir", hatte der
betrogene Pierre zu Luigi gesagt. Und wenn also France Robert "wie wir
ist, ein Teil der männlichen Phantasie, dann sprechen auch Luigis
Selbstgespräche zum Ende des Films von dieser Beziehung zwischen Idee und
Identität, die ZU VERKAUFEN vorführt: "Ich werde schon begreifen, warum
sie flieht... Mich hält auch nichts mehr. ... Ich bin France Robert,
France Robert."
Jan Distelmeyer
Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Zu Verkaufen
(A VENDRE)
Frankreich 1998. R und B: Laetitia Masson.
P: Francois Cuel, Francois Marquis. K:
Antoine Heberle. Sch: Ailo Auguste, M:
Siegfried. T: William Flageolett, Michel
Vonnet, Piotr Zawadzki. A: Arnaud de
Moleron. Ko: Elisabeth Mehu, Nathalie
Clavier. Pg : CLP/La Sudio Canal Plus/La
Sept Cinema. V: Arthaus. L: 117 Min. St:
1.7.1999. D: Sandrille Kiberlain (France
Robert), Sergio Castellitto (Luigi Prima). Jean-Francois Stevenin (Pierre Lindien), Aurore
Clement (Pierres Schwester), Chiara Mastroianni
(Mireille), Roschdy Zem (Banker), Guy Boulonet
(Frances Vater), Monique Verite (Frances
Mutter).