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Alles steht Kopf
Der Begriff anger management – unter amerikanischen Richtern eine populäre disziplinarische
Maßnahme, um schlecht gelaunte Supermodels oder zu gewalttätigen
Ausfällen neigende Profisportler zur Räson zu bringen – wird in „Alles
steht Kopf“, der fünfzehnten Pixar-Produktion, ganz wortwörtlich interpretiert.
Wut, personifiziert von einem roten Aggrowürfel im casual business outfit, sitzt in Pete Docters drittem Film für das Animationsstudio
(nach „Monster AG“ und „Oben“) tatsächlich an den Schalthebeln. Zusammen mit
seinem Team, bestehend aus Freude, Ekel, Kummer und Angst, ist Wut dafür
verantwortlich, die schwankenden Gemütszustände der elfjährigen
Riley zu kontrollieren. Wobei jedoch nie ganz klar wird, ob hier wirklich das
psychedelisch kolorierte Gefühlspersonal in Rileys allegorischem Hauptquartier,
das an die Brücke der Enterprise erinnert, das Kommando hat oder die Emo-Arbeiter
selbst nur Erfüllungsgehilfen einer höheren neuronalen Instanz sind.
Mit der Verortung der Gefühle ist das ontologisch ja so eine Sache. Aber
philosophische Überlegungen über die Existenz des freien Willens werden
bei Pixar und dem Mutterkonzern Disney ohnehin zweitrangig behandelt. Natürlich
geht es hier um etwas ganz anderes.
Selbst für Pixar-Verhältnisse ist „Alles steht
Kopf“ bemerkenswert smart, weil der Film sehr prinzipiell und im wahrsten Sinne
des Wortes bewusstseinserweiternd durchexerziert, worum sich das Kerngeschäft
Pixars (und mehr noch das von Disney) im wesentlichen dreht: die Produktion
von Gefühlen in allen möglichen Farben, Formen und Gestalten. Docter
hat die Gefühlswelt Rileys sehr praktisch konzipiert, sozusagen mit kindlicher
Intuition: Da produziert jede emotionale Erfahrung eine Kugel, in der die Erinnerung
als kleines Home Movie abgespeichert ist und die am Ende des Tages in einer
Art Asservatenkammer eingelagert wird. Formative Erlebnisse bringen eine „Kern-Erinnerung“
hervor, die die vier „Persönlichkeitsinseln“ Rileys speisen (Familie, Freundschaft,
Eishockey, Herumalbern) – schwebende Plattformen über dem schwarzen Abgrund
des Vergessens, in dem verblasste Erinnerungen zu Kohlestaub zerfallen. Auf
der Kommandobrücke dieser fantastischen mindscape sorgen Freude, Wut, Kummer, Angst und Ekel – die Gefühlswelt
im Hause Disney ist überschaubar – für einen geregelten Ablauf der
Adoleszenz.
Die zwanghaft optimistische Freude, deren innerliches
Leuchten einen schönen visuellen Kontrast zu ihrer blau schimmernden Bobfrisur
setzt, hat alle Hände voll zu tun, dass die cholerische Wut, die sich unter
Stress schon mal in einen Flammenwerfer verwandelt, oder der dauerdepressive
Kummer in Rileys Gefühlshaushalt nicht die Oberhand gewinnen. Das geht
zumindest so lange gut, wie sich die Kleine noch in die Windeln macht oder mit
dem alten „Flugzeug“-Trick zum Broccoli-Essen überlistet werden kann. Als
die Eltern jedoch von Minnesota nach San Francisco ziehen, erlebt Riley, pünktlich
zur einsetzenden Pubertät, ihre erste Krise. Die halbherzigen erzieherischen
Maßnahmen der Eltern ziehen nicht mehr, wie ein kurzer Exkurs in die Kommandozentrale
des Vaters zeigt. Da sitzen seine abgestumpften Gefühle während einer
Moralpredigt seiner Frau geistesabwesend vor dem Fernseher.
In Rileys Gefühlswelt herrscht dagegen Ausnahmezustand.
Bei einem Routinemanöver werden Freude und Kummer mitsamt „Kern-Erinnerungen“
in den Orbit von Rileys Bewusstsein geblasen. Während das hinter dem Kommandopult
verbliebene Gefühlspersonal kontraproduktiv das Mädchen bei Laune
zu halten versucht, müssen Freude und Kummer – zusammen mit einem imaginären
Freund aus Rileys Kindheit („halb Zuckerwatte, halb Elefant“) – den Weg zurück
ins Hauptquartier finden. Viel Zeit haben sie nicht: Ohne „Kern-Erinnerungen“
kollabieren die „Persönlichkeitsinseln“ wie Leck geschlagene Weltraumstationen.
Die Pubertät als Katastrophenfilm – gemäß der modernen Blockbuster-Logik
gerät auch bei Pixar das world building zur Zerstörungsorgie. Das aber wenigstens gefühlsecht.
Zielgruppentechnisch hat man bei Pixar mit „Alles steht Kopf“ ein Höchstmaß an Selbstreflexivität, Meta-Erzählung und Crossover-Tauglichkeit (die Kinder ins Kino kriegen und die Eltern bei Laune halten) erreicht. Die Phantasmagorien sind stellenweise so theoriegesättigt, dass den Kleinen kaum etwas anderes übrig bleiben wird, als sich an Farben und Formen zu erfreuen. Rileys Traumwelt entpuppt sich als Filmset (das von einem Kindheitsalbtraum aus dem Unterbewusstsein des Mädchens in Godzilla-Manier zerlegt wird), die Zwischenwelt der „abstrakten Gedanken“ verwandelt die Reisenden in zweidimensionale Figuren, die den hochgerüsteten Animationsfilm vorübergehend in die Frühzeit des Kinos zurückversetzen. Medienpädagogisch ist diese Form der Psychokartografie sicherlich wertvoll. Es könnte aber auch sein, dass „Alles steht Kopf“, wie jede Reise ins Unbewusste, unter den Jüngsten für Verstörungen sorgen wird. Trotz Zuckerwatte-Elefanten und fettigen Pommeswäldern.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: der freitag
Alles steht Kopf
(Inside Out) - USA 2015 - 94 Min. - Kinostart(D): 01.10.2015 - FSK: ohne Altersbeschränkung
- Regie: Pete Docter, Ronaldo Del Carmen - Drehbuch: Pete Docter - Produktion:
John Lasseter, Jonas Rivera - Musik: Michael Giacchino - DOriginalstimmen: Diane
Lane, Amy Poehler, Kyle MacLachlan, Mindy Kaling, Bill Hader, Phyllis Smith,
Lewis Black, Kaitlyn Dias, Paris Van Dyke - Verleih: Walt Disney Germany
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