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All Is Lost
Schwebende Momente der Rührung
Erschütterungen im Stillen prägen J.C. Chandors Einmannstück "All Is Lost", der sich seinen Platz auf den Jahresbestenlisten redlich verdient hat.
Die Dezemberausgabe der in cinephilen Kreisen maßgeblichen amerikanischen
Fachzeitschrift Film Comment führt "All is Lost" unter den besten
Filmen des vergangenen Jahres. Aber auch denjenigen unter uns, die der manischen
Listenhuberei zum Jahresende eher abhold sind, muss man den zweiten Langspielfilm
des noch jungen Regisseurs J.C. Chandor, worin ein namenloser Mann (der Abspann
führt ihn als "Our Man") allein auf hoher See gegen den Untergang
ankämpft, dringend ans Herz legen.
Was ein souveräner Actionfilm der "prozeduralen" Sorte hätte
werden können (so bezeichnet der Filmwissenschaftler Steven Shaviro Filme,
die sich mehr für den schieren Vorgang interessieren als für Figuren
oder Diskurse), treibt bald ab in allegorische Gefilde. Nicht zufällig
ist der stumme Protagonist im Kampf mit den Elementen ein Mann am Abend seines
Lebens (mag er, verkörpert von Robert Redford, noch so vorteilhaft gealtert
sein) - diese Pointe will der Film so unbedingt heimbringen, dass seine
Schläue manches Mal mit ihm durchzugehen droht. Wer sich dennoch einzulassen
vermag auf das doppelte Register von deskriptivem Krisenmanagement hier, existenzieller
Vergeblichkeit da, der wird mit frei schwebenden Momenten der Rührung belohnt,
die an gar kein bestimmtes Bild sich heften, sondern aus der Dauer des Films
unvermittelt aufsteigen wie Tränen, von denen man nicht mit Sicherheit
sagen kann, wem oder was sie eigentlich gelten.
Nicht weniger überraschend sind die Strukturähnlichkeiten,
die sich zwischen "All is Lost" und einem anderen vielbesprochenen
amerikanischen Film des vergangenen Jahres, Alfonso Cuaróns "Gravity",
auftun: Beide Filme werfen uns in eine (außerweltliche) Welt ohne festen
Horizont und entziehen uns konsequent den Boden unter den Füßen,
beide folgen einer CGI-gestützten Eskalationsdramaturgie, und beide sind
darum bemüht, die philosophischen Obertöne ihrer verwandten Sujets
(See- bzw. Raumfahrt) zum Klingen zu bringen - sogar im leicht Patscherten dieser
Bemühung kommen Cuarón und Chandor überein. Ein Mensch ringt
mit Mächten, die seine Möglichkeiten bei Weitem übersteigen,
aber wo Cuarón das Moment der Vergeblichkeit nur deshalb beschwört,
um danach von seiner Überwindung erzählen zu können, gibt Chandor
den ungleichen Kampf schon in der ersten Einstellung - eigentlich: schon im
Filmtitel - verloren: Ein Stück Altmetall (es wird sich noch weisen, worum
es sich handelt) treibt von links ins Bild, darüber legt sich eine resignierte
Männerstimme: "All is lost." Enden wird dieser Brief, eine aufs
Wesentliche reduzierte Summe seines Lebens, mit einem reuevollen "I'm sorry."
Dann versetzt uns ein Zwischentitel acht Tage zurück in die Vergangenheit.
Der Mann döst unter Deck vor sich hin, bis ein lautes Geräusch ihn
weckt: Ein harter Gegenstand hat sich in die Hülle des Bootes gefräst
und ein Leck geschlagen, durch das nun Wasser dringt.
Immer neue katastrophische Wendungen brechen über unseren Mann herein,
und wie Sandra Bullocks Figur in "Gravity" halten wir auch ihm die
Daumen, er möge sich, dieses eine Mal noch, im allerletzten Moment aus
dem Schlamassel ziehen. Aber weder werden in "All is Lost" Hinweise
auf die psychologische Person gestreut und verdichtet, die der Getriebene unter
anderen Umständen vielleicht wäre, noch glauben wir, dass er in letzter
Instanz mit dem Leben davonkommen wird - einfach weil das, auf Dauer gesehen,
niemandem gelingt. Solche Existenzialismen können schon nerven, besonders
wenn Chandor meint, sie anhand bestimmter Einstellungstypen (von oben, von unten)
und Akkorden einfach abrufen zu können. Im Ganzen aber ist die Daseinsmetaphorik
hart erarbeitet und, vorbehaltlich kleiner Einwände, redlich verdient.
Obwohl Chandor sich durchaus auf viszerale Action versteht, ereignet sich die
größte Erschütterung von "All is Lost" nicht in der
Magengrube, sondern unter der Hand und im Stillen. Ganz wie das Älterwerden.
Nikolaus Perneczky
Dieser Text ist zuerst erschienen im www.perlentaucher.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
All Is Lost
USA 2013 - 106 Minuten - Kinostart(D): 09.01.2014 - FSK: ab 6 Jahren - Regie: J.C. Chandor - Drehbuch: J.C. Chandor - Produktion: Neal Dodson, Anna Gerb, Justin Nappi, Teddy Schwarzman - Kamera: Frank G. DeMarco - Schnitt: Pete Beaudreau - Musik: Alex Ebert - Darsteller: Robert Redford
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