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Die
Anruferin
Erzähl
mir eine Geschichte!
Ein Kind ruft an, erzählt davon,
dass ein Gespenst unter dem Bett lauert. Erzählt, dass Mami nicht helfen
kann, weil sie im Nebenzimmer so komisch herumliegt. Oder erzählt, dass
es ganz traurig ist - auf der Krebsstation. Wir hören die Kinderstimme
quengeln und werden eiskalt überrascht, wenn dahinter eine ungefähr
dreißigjährige Frau steckt.
Irm Krischka arbeitet tagsüber in
einer Wäscherei und pflegt abends aufopfernd und latent aggressiv ihre
bettlägerige und schwer alkoholkranke Mutter (Franziska Ponitz). Abgesehen
von den Telefonaten scheint Irm (Valerie Koch) kaum soziale Kontakte zu haben,
am Arbeitsplatz wirkt sie verschlossen und gehemmt. Manchmal gibt sich Irm am
Telefon auch als Mutter des Kindes, das angerufen hat, aus und erzählt,
dass die Tochter gestorben ist. Sie braucht Mitgefühl und Zuwendung wie
ein Vampir das Blut und weidet sich geradezu an der Verstörung oder Betroffenheit
ihrer Opfer. Warum Irm so handelt, wie sie handelt, warum sie plötzlich
eine emotionale Kälte an den Tag legt, die man mit Hände zu greifen
meint, bleibt lange im Ungefähren. Es ist zunächst sogar unterhaltsam,
Irm bei ihren "Streichen" zuzusehen, bis man realisiert, dass hier
ein ernsthafter psychischer Defekt vorliegt.
Dann jedoch geschieht etwas, das für
Irm den Super-GAU darstellt. Die Bibliothekarin Sina (Esther Schweins), die
durch einen Unfall ihren Partner verloren hat, geht auf die Fiktion der trauernden
Mutter ein und sucht die Nähe zu Irm. Es entsteht eine emotionale Beziehung,
die auf einer fundamentalen Lüge gründet, die der Filmemacher Felix
Randau ("Northern Star") aber auch dazu nutzt, möglichen Gründen
für Irms psychische Verfassung nachzuspüren. Dass Irm "ihre"
Kinder immer wieder an Leukämie sterben lässt, hat Gründe in
ihrer Kindheit. Dass sie ihre sterbende Mutter selbst pflegt und nicht ins Krankenhaus
abschiebt, gleichfalls.
Allmählich verdichten sich die Puzzleteilchen
zu einem subtilen Psychogramm, das sich einer moralischen Wertung enthält.
Dass Randaus "Anruferin" sich kammerspielartig auf die darstellerischen
Qualitäten seiner drei Protagonistinnen verlässt, beschädigt
den Film, der lange offenlässt, ob er Horrorfilm oder Psychostudie sein
will, nicht. Valerie Koch wurde für ihre herausragende Leistung auf dem
Filmfest München 2007 zu Recht ausgezeichnet.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: Stuttgarter Zeitung
Die
Anruferin
Deutschland
2007 - Regie: Felix Randau - Darsteller: Valerie Koch, Esther Schweins, Franziska
Ponitz, Stefanie Mühlhan, Ivan Shvedoff, Marita Breuer, Bernhard Marsch,
Charlotte Bohning - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge:
84 min. - Start: 20.3.2008
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