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Aus dem Abseits
Vier Jahre war Simon Brückner alt, als 1982 sein Vater in Nizza
starb, der linke Hochschullehrer und Publizist Peter Brückner. Mit ein
paar Erinnerungen, Gerüchen und „undeutlichen Bildern“ (Off-Kommentar)
begibt sich der Sohn in „Aus dem Abseits“ auf die Suche nach der privaten Seite
seines Vaters, der als „Vaterfigur“ der Außerparlamentarischen Opposition
(Jahrgang 1922) eine umstrittene öffentliche Figur war. Einerseits steht
Brückners Biografie exemplarisch für den „aufrechten Gang“, andererseits
bezeichnet er in seinem letzten, dem Sohn gewidmeten Buch mit Jugenderinnerungen
das „Abseits als sichere(n) Ort“. Der Filmemacher (re-)konstruiert die Biografie
seines Vaters, indem er Tondokumente, Archivmaterial und viele Gespräche
mit Familienmitgliedern, etwa seiner Mutter, der Publizistin Barbara Sichtermann,
älteren Geschwistern aus Brückners erster Ehe, Freunden, Kollegen
und Genossen, etwa Axel Oestmann, Petra Milhoffer, Manfred Lauermann oder Klaus
Wagenbach, hinzuzieht und das Material auf mehreren komplex verschachtelten
Zeitebenen montiert.
Peter Brückner, Sohn eines unter den Nazis arbeitslos gewordenen
Ingenieurs und einer jüdischen Sängerin, lebte nach der Emigration
der Mutter eine Zeitlang als Jugendlicher allein in Dresden, bevor er auf ein
Internat kam. Nach dem Rauswurf 1939 aufgrund „destruktivem Ungehorsam“ kommt
Brückner mit kommunistischen Kreisen in Kontakt. Trotz seiner jüdischen
Herkunft immatrikuliert er sich nach bestandenem Abitur an der Universität
Leipzig. Durch einen glücklichen Zufall gelingt es ihm, in der Wehrmacht
unterzutauchen und als Deserteur die NS-Zeit zu überleben. Nach 1945 studierte
Brückner als KPD-Mitglied und ASTA-Vorsitzender in Leipzig, bevor es ihn
aufgrund eines drohenden Parteiausschlussverfahrens in den Westen verschlug,
wo er in Münster Psychologie studierte. 1957 promovierte er und gründete
in Heidelberg ein Marktforschungsinstitut, um „von der Gesellschaft“ zu leben,
wenn schon nicht „mit ihr“. „1968“ erlebte Brückner, der seit 1967 eine
Professur für Psychologie in Hannover bekleidete, als Re-Politisierung
und Neugeburt. Er suchte den Kontakt zum SDS, wollte „weniger Herrschaft“, nicht
„bessere Herrschaft“ (Off-Kommentar).
Brückner publizierte zur „Transformation der Demokratie“ und zu Ulrike
Meinhof, wurde von der RAF dafür heftig kritisiert und gleichzeitig als
RAF-Sympathisant verdächtigt, obwohl er vor laufenden Kamera differenziert
und unmissverständlich Kritik an revolutionärer Gewaltpolitik ohne
revolutionäres Subjekt formulierte. Sympathisierend reflektierte Brückner
die Defizite und Missverständnisse der antiautoritären Revolte. 1972
wurde er für zwei Semester vom Dienst suspendiert. 1977 folgte die sogenannte
„Mescalero“-Affäre um den „Buback-Nachruf“ eines Göttinger Studenten,
für dessen Publizierung sich Brückner im Zeichen gesellschaftlicher
Selbstreflexion einsetzte. Brückner wurde erneut suspendiert, setzte seine
Lehrtätigkeit in privaten Räumen fort, erlebte 1981 seine Rehabilitierung,
kehrte aber nicht auf seinen Lehrstuhl zurück.
Simon Brückner versammelt widersprüchliches Material. Er
erkennt im Vater auch einen „Rollenspieler“, der einen bestimmten Teil seiner
Persönlichkeit nie preisgab. Der private Peter Brückner, dem die Suche
des Sohnes gilt, taucht im Film nur schemenhaft auf. Es ehrt den Filmemacher,
dass er Widersprüche und Leerstellen dieser gewiss nicht exemplarischen
Biografie stehen lässt, anstatt sie mit eindeutigem Material zuzuschütten.
Nach seiner zweiten Suspendierung wurde die ökonomische Situation der Familie
schwieriger. Einmal ist sogar kurz die Rede davon, dass der durchaus einem guten
Leben zugeneigte Intellektuelle sich bei Kredithaien Geld geliehen habe, um
seinen Lebensstil zu bewahren.
Am Ende des Films steht die Einsicht, dass es nicht hinreicht, das Nein gegenüber der Normalität zu denken, sondern, dass es im Konflikt realisiert werden muss – und zwar als „Kritik im Handgemenge“ (Brückner), weshalb das Abseits als Ort, der „leer von Macht“ sei, nur als regulative Idee tauge. Das Handgemenge findet auf einem mit der Macht geteilten Gelände statt. Am Ende scheint es dem Filmemacher, als habe der Vater mehrere Leben gelebt. Viele davon lassen sich erzählen, bleiben dem Nachgeborenen aber – trotz aller Sympathie – fremd und durchaus unmissverständlich „Privatsache“.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen im filmdienst 24/2015
Aus dem Abseits
Deutschland 2015 - Produktionsfirma: credo:film/ZDF - Regie: Simon Brückner - Produktion: Susann Schimk, Jörg Trentmann - Buch: Simon Brückner, Sebastian Winkels - Kamera: Isabelle Casez - Schnitt: Sebastian Winkels - Erstaufführung: 03.12.2015 - Länge: 116 Min - FSK: ab 0; f - Verleih: missingFILMs
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